Viktoria

Fremd in fremdem Land

Theo Pauly, Gerolstein

 

Sie war ein Fremde. Damals war das etwas Außergewöhnliches, zumindest für uns im kleinen Struthdorf. Sicher, wir hatten in diesen Jahren viele Fremde kennengelernt, Soldaten, Männer aus den verschiedensten Teilen Deutschlands, aus dem hohen Norden und dem tiefsten Süden, aus Ostpreußen und Südtirol. Deutschland war groß; es nannte sich „Großdeutschland". Wir hatten auch schon Ausländer kennengelernt, Franzosen, die als Kriegsgefangene bei den Bauern arbeiteten, mehr oder weniger geschickt, mehr oder weniger freundlich, mehr oder weniger willig. Aber das waren alles Männer gewesen. Nun wurde uns eine „Ostarbeiterin" zugeteilt, ein achtzehnjähriges Mädchen aus der Ukraine. Die Erwartung des Zwölfjährigen war groß. Eine junge Frau aus fremdem Land, in dem ein grausamer Krieg tobte, dem bereits eine ganze Reihe Bekannter, auch der Lieblingsonkel, zum Opfer gefallen war. In den Propagandaschriften und -illustrierten der damaligen Zeit waren die Russen als verkommene Kretins dargestellt und beschrieben, kriminell, fürchterlich aussehend, brutal; man nannte sie „Untermenschen". Und da kam dann ein schüchternes, hübsches junges Mädchen an. Ja, die Kleidung war ärmlich und verschlissen, die braunen Augen schauten ängstlich einen jeden von uns prüfend an. Das aufgetischte Essen wurde zunächst verschmäht und es liefen Tränen, unaufhörlich, als meine Mutter den Arm um sie legte und sie an sich drückte. Mit einem Blick scheuchte Mutter uns aus der Küche, dann waren die beiden allein. Was nun geschah, wissen nur sie. Doch als zum Abendessen alle wieder bei Tisch erschienen, saß auch das Mädchen aus Rußland dabei. Die Tränen waren versiegt, ein scheues Lächeln begrüßte einen jeden von uns. „Viktoria" heiße sie, erklärte die Mutter, und dann stellte sie uns alle vor. Und sie wurde Hausgenossin, mehr noch, Mitglied der Familie. Die Eltern hatten ihr ein eigenes Zimmer hergerichtet; wer hatte das sonst im Haus? Der erste Gang mit ihr führte zum Dorfschuster, der ihr Maß nahm für ein Paar neue Schuhe, denn das, was sie an den Füßen trug, verdiente die Bezeichnung nicht mehr. Nach und nach wurde sie durch Umändern von Kleidern der Mutter und Tante neu eingekleidet, nicht nach neuester Mode, dafür ordentlich und gediegen. Und Viktoria belohnte die Bemühungen durch Freundlichkeit, Anstelligkeit und Fleiß bei der Arbeit. So war sie nach kurzer Zeit Mitglied der Familie, meine große Schwester.

Es hat nicht lange gedauert, bis sie unsere Sprache verstand und auch sprechen konnte, fast fließend. Man konnte sich mit ihr über alles und jedes unterhalten; sie war ein gescheites Mädchen. Das widersprach allen bösen Propagandasprüchen!

Und dann war eines Tages mein Staunen unbeschreiblich. Zu der Zeit erhielt ich Lateinunterricht beim Pastor. Der war ein lieber Mann, aber ein strenger Lehrer. Mit dem Rotstift war er schnell bei der Hand, und mein Heft, in dem ich die lateinischen Übungen und Übersetzungen machte, glich häufig einem Schlachtfeld. Als ich eines Tages mal wieder über diesem Heft saß, den Bleistift kauend, weil ich einige Fehler nicht zu berichtigen wußte, trat Viktoria hinter mich und lachte, was mich nicht wenig ärgerte. Beschämt schlug ich das Heft zu und wollte sie aus der Stube weisen. Doch da griff sie das mit roten Strichen verunzierte Heft und das dazugehörige Lateinbuch - ich besitze es heute noch - und erklärte mir, wie ich es richtig zu machen hätte. Ich war zwar nicht so recht davon überzeugt, daß das, was sie mir erklärte auch richtig sei, doch anderntags lobte mich der Pastor, daß ich offensichtlich mittlerweile verstanden hatte, was er wochenlang versucht hatte, mir beizubringen. Und dann erfuhren wir, daß Viktoria einen Schulabschluß hatte, der in etwa unserem Abitur entsprach. Sie stieg gewaltig in meiner Achtung, von da ab hatte ich eine probate Nachhilfelehrerin, vor allem in Mathematik. Sie konnte es zwar nicht unterlassen, mich entsprechend zu hänseln, wenn ich mal wieder eklatante Fehler gemacht hatte; dann stritten und zankten wir, wie zwei leibliche Geschwister, aber sie hat mir viel geholfen, vor allem, was das mathematische Verständnis anging. Das Erstaunlichste war, daß sie bei allen anfallenden Arbeiten in Haus und Hof geschickt, schnell und gründlich war. Ab und an konnte sie auch einmal motzen, doch das dauerte nie lange; sie war im Grunde ein fröhlicher Mensch. Wenn sie schlecht gelaunt war, merkte man das natürlich an ihrer Miene, mehr aber noch daran, daß sie laut pfeifend und dabei äußerst energisch ihrer Arbeit nachging.

Einmal war ein junger Mann aus dem Dorf, der als Soldat in Rußland stand, auf Heimaturlaub, und es stellte sich heraus, daß seine Einheit in der Nähe von Viktorias Heimatstadt in der Ukraine lag. Da gab es natürlich für die beiden viel zu erzählen, und nachdem „Märjen Ernst" wieder in Rußland war, klingelte eines Abends bei uns das Telefon. Weil meine Mutter die Posthalterin war, befand sich in unserem Hause die „Öffentliche". Es war gerade niemand der Erwachsenen zugegen, und ich nahm den Telefonhörer ab. Das Gespräch schien von weit her zu kommen. Dann vernahm ich die Stimme von „Märjen Ernst", der mich bat, Viktoria ans Telefon zu rufen. Sie war darob noch mehr erstaunt als ich, und dann schrie sie plötzlich auf und brach in lautes Weinen aus. Warum sie so aufgelöst war, wußte ich nicht, ahnte jedoch etwas und verließ die Stube, in der Viktoria den Telefonhörer krampfhaft ans Ohr gepreßt hielt. Nach kurzer Zeit stürzte sie schluchzend aus der Stube und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Erst am anderen Morgen erfuhren wir, was geschehen war. „Märjen Ernst" hatte Viktorias Eltern ausfindig gemacht und ihnen über die Schreibstube seiner Kompanie ein Telefonat mit der verschleppten Tochter ermöglicht. Ich nehme an, dies war das letzte Mal, daß Viktoria persönlich mit ihren Eltern gesprochen hat.

An diesem Morgen eilte sie spornstreichs nach Rengen, denn dort befand sich ihre Schwester Tatjana, ebenfalls als „Ostarbeiterin". Tatjana war ein paar Jahre älter und Viktoria besuchte sie regelmäßig an Sonn- und Feiertagen in Rengen. Die Schwester war hübscher, doch bei weitem nicht so freundlich und nett. Wir hatten den Eindruck, daß sie versuchte, ihre jüngere Schwester dahingehend zu beeinflussen, daß sie die Arbeit boykottiere. Jeweils am Montagvormittag war Viktoria nicht gut zu gebrauchen, doch das hatte sich spätestens am Mittag gelegt. Dann war sie wieder das freundliche und umgängliche Familienmitglied.

Als dann im März 1945 die Amerikaner kamen, und der Krieg in der Eifel beendet war, wurden alle „Fremdarbeiter" eingesammelt und angeblich nach Hause gebracht. Viktoria weinte herzzerreißend beim Abschied und umarmte unter Protest ihrer Schwester einen jeden von uns. Es war, als würde ein enger Verwandter uns für immer verlassen.