Heimat und Literatur

Eifeldorf im Wandel

Theo Pauly, Gerolstein

 

Das Dorf in der Hocheifel zeichnete sich selten durch Größe aus. Es war jedoch, ob klein, ob größer, ein Gemeinwesen, in dem jeder jeden kannte, einer dem anderen in Nöten bereitwillig beistand, in dem sich der Dörfler geborgen wußte. Nachbarschaft war großgeschrieben, weil man erfahren hatte, wie sehr man aufeinander angewiesen war. Das mag nicht immer angenehm gewesen sein, daß man sich gegenseitig in den Kochtopf guckte. Für Individualisten blieb hier wenig Platz. Man war gezwungen, Rücksichten zu nehmen, und das beeinflußte die Lebensweise. Wer sich nicht der dörflichen Tradition unterwarf, den gewohnten Sitten und Bräuchen, der bekam zu spüren, daß er nicht dazu gehörte. Es mußte alles seine Ordnung haben. Wer gegen diese Ordnung verstieß, wurde selbst ausgestoßen. Man mag darüber denken, wie man will: Die Ordnung des Dorfes war für seine Existenz unabdingbar. Den Begriff der Emanzipation kannte man noch nicht; die Rollenverteilung war vorgegeben und wurde akzeptiert. Wenn nicht war man Außenseiter und allenfalls noch geduldet.

Das Dorf blieb über Jahrzehnte und Jahrhunderte in seiner Substanz erhalten, es sei denn, Epidemien wie etwa zur Pestzeit, oder Kriege verwüsteten ganze Orte und löschten sie aus, so daß heute allenfalls noch Flurnamen von ihrer Existenz zeugen. Ansonsten aber hatte ein Dorf Bestand. War ein Haus altersschwach geworden, entstand an seiner Stelle ein neues; die Bewohner blieben die alten. Ab und an verfiel ein Haus, weil niemand mehr da war, der es hätte bewohnen können. Doch das kam selten vor. Manch einer verzog in die Fremde, weil das Dorf ihm keine Existenz bieten konnte, doch riß die Verbindung zum Heimatdorf selten ab. Selbst die, die in ferne Kontinente auswanderten, sei es aus materieller Not, aus Abenteuerlust, oder weil sie nicht in die Armee irgendeines Landesfürsten gezwungen werden wollten, auch sie sehnten sich Zeit ihres Lebens nach ihrem Heimatdorf zurück. Das beweisen die vielen heute noch vorhandenen Briefe von Auswanderern an die Angehörigen oder Bekannten in der Heimat.

Das Dorf war stets bäuerlich geprägt. Einige wenige Handwerker gab es, die den Bauern zuarbeiteten, meist aber nebenher auch noch Landwirtschaft betrieben, alle übrigen Dorfbewohner beackerten ihr mehr oder weniger ergiebiges Land. So blieb es nicht aus, daß das Dorf die gleiche feste Größe darstellte wie die Äcker, Wiesen und Wälder ringsum. Jede Veränderung wurde möglichst vermieden, es sei denn, sie war unumgänglich und zum Wohle des Ganzen. Von daher mußte sich der Dörfler bis in unsere Zeit den Vorwurf der Rückständigkeit gefallen lassen. Er tat dies im Bewußtsein, einer guten, althergebrachten und sich als bewährt erwiesenen Sache, zu dienen. Es war nicht immer heile Welt im Dorf, doch Zwist und Ungemach drangen selten nach draußen; damit wurde man allein fertig. In gleicher Form wurden Einflüsse von außen abgewehrt. Dem Dorf hatten sich alle und alles unterzuordnen. So war es ein Wesen, das gab und nahm, was das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft bestimmte, war Hort und Heimat.

Dann wurde vieles anders. Zwei große Kriege hatten gewaltige Veränderungen in der gesamten Welt bewirkt, vor denen auch das Dorf sich nicht mehr zu schützen vermochte. Die Menschen waren durcheinander geraten, manch Fremder wurde im Ort seßhaft und half mit, das Dorfgefüge zu verändern. Durch seine andersartige Denk-, Lebens- und Arbeitsweise nahm er Einfluß auf die althergebrachte Dorfkultur, die sich unter diesen Einflüssen stetig umgestaltete, ohne daß es zunächst bewußt wurde. Alte, bis dahin bewährte Wirtschaftsgefüge und -Systeme nahmen weltweit andere Formen an, wurden gar von neuen abgelöst oder ersetzt. Der Weltmarkt dehnte sich aus und zeitigte Wirkungen bis hinein in die einzelne Familie. Dem konnte das Dorf nicht mehr gegenhalten. Immer mehr Dörfler, die bisher vom Ertrag ihrer Scholle das oft karge Leben gefristet hatten, gaben ihren Stand nach und nach auf und suchten als industrielle Arbeiter ihr Leben besser und angenehmer zu gestalten. Gewerbe und Industrie kamen mit ihren Produktionsbetrieben an den Rand der Gemeinden, boten besser bezahlte Arbeitsplätze und höhlten so die bäuerliche Struktur allmählich aus. Nun wurde man bereit, alte Traditionen aufzugeben. So wie sich die Kleidung der Moderne anpaßte, ersetzte man alte Möbel und Geräte durch aktuelles Design und moderne Technik. Dazu paßte aber auch das alte Haus nicht mehr. Es wurde teils abgerissen und durch ein neues ersetzt, teils um- oder angebaut und modernisiert, teils veräußert. Hier waren tatsächlich Notwendigkeiten gegeben: Jedes Haus erhielt nach und nach sein eigenes Bad, die Toilette im Haus, was man früher nicht gekannt hatte; so besserten sich die hygienischen Verhältnisse und das war gut. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Dörfer kanalisiert, erhielten breitere und asphaltierte Straßen. Die Häuserfassaden wurden denen städtischer angeglichen und das Dorf verlor das ländliche Aussehen mehr und mehr. Anstelle der Wiese am Haus trat der Zierrasen; der Nutzgarten wurde mehr und mehr zum Zier-Garten. Alles Alte erinnerte an Darben und Armut, darum trennte man sich leicht und gern von ihm. Manch einer bedauert heute zur Zeit der Nostalgiewelle, daß er seinerzeit Hausrat, Möbel und Gebrauchsgegenstände für billiges Geld an Geschäftemacher verscherbelte, vernichtete oder achtlos wegwarf. Aber nicht nur solche Dinge wurden leichtfertig aufgegeben, auch Lebensart, Sitten und Tugenden, die einst die Kultur des Dorfes bestimmt hatten, wurden abgelegt wie die alten Kittel. Es berührte kaum noch, wenn man sein "altes Haus, nachdem daneben ein neues stand, einem Fremden überließ. Und es kamen immer mehr Fremde ins Dorf, die dem Stadtleben entfliehen und vor allem den Lebensabend in vermeintlich ländlicher Idylle verbringen wollten, bis sie nach recht kurzer Zeit erkannten, daß es mit dieser Idylle gar nicht so weit her war und das Anwesen weiterverkauften, ebenso wie die, die aufgelassene Häuser als Geldanlage betrachtet hatten. Auch hier wechselten Mieter und Besitzer häufig, und der Neuzugezogene fand nicht die Zeit, seßhaft und heimisch zu werden. Fremde, nicht Vertrautheit hatte im Dorf Einzug gehalten. Mancher Alteingesessene beobachtete die Entwicklung mit Sorge, Trauer und Skepsis, doch sah er sich nicht in der Lage, dagegen anzugehen. Die Zeit hatte ihn überrolt.

Das Zusammenleben im Dorf ist ganz gewiß unpersönlicher geworden, als es früher war. Das mag man bedauern. Vielleicht, und das wäre zu wünschen, kommt auch hier wieder die Zeit, daß man sich auf ein besseres Neben- und Miteinander besinnt, wie mittlerweile alte Gegenstände als Kostbarkeit gehütet werden, die einstmals leichtfertig und leichtsinnig über Bord geworfen wurden. Es gibt gute Anzeichen dafür. Das Dorf, wie es einst war, wird nicht mehr sein. Ich weiß nicht, ob das unbedingt bedauerlich ist; Es lebt weiter, wenn auch in anderer Weise, gar in anderen Dimensionen. Das Dorf stirbt nur dann, wenn es die Menschen im Stich lassen.