Im Landratsamt vor vierzig Jahren

Ein Lehrling erinnert sich

Franz Josef Ferber, Daun

 

Als Schüler bin ich oft an dem großen Haus in der Dauner Leopoldstraße vorbeigegangen. Ältere Leute nannten es die „Landratur". Das Amtsgebäude war mir von früheren Kindheitstagen an etwas vertraut; denn jedesmal, wenn wir mit unseren Eltern in die Kreisstadt reisten, zog es mich in seine Nähe, wegen des griechisch-römischen Weingotts, der vor dem Hause majestätisch auf seinem eisernen Faß saß. Für uns Kinder war dieser ehrwürdige, wohlgenährte Herr „dat deck Männtje". Damals, Anfang der 1950er Jahre, habe ich mir gewünscht, im Landratsamt als „Schrejwa" zu arbeiten. Und das geschah eines guten Tages. Es war am 1. Oktober 1952, als wir - Hannelore, Paul, Heinz, Alwin und ich -, die ersten Schreiberlehrlinge nach dem Zweiten Weltkrieg, beschäftigt wurden.

Der allseits bekannte und geachtete Amtmann Schneider, seines Zeichens Büroleiterund nach dem Landrat der höchste Kreisbeamte, empfing uns in seinem Büro. Das lag im Erdgeschoß, rechter Hand des Haupteingangs, und es war ziemlich klein. Man erreichte es, indem man durch ein größeres Amtszimmer ging, worin vier oder fünf Schreiber, unter ihnen der Herr Oberinspektor Hommes, der dritthöchste Kreisbeamte, saßen. Diese beiden Büros, das war die sogenannte Abteilung K (Kommunalabteilung). Der Amtmann gefiel mir so sehr, daß ich ihn später zum Vorbild nahm. Das einzige, was mir bei ihm nicht benagte, war sein Schreibtisch. Der war dermaßen mit Akten und Papieren überladen, daß er unordentlich wirkte. Ich hatte den Eindruck, daß der Herr Bürovorsteher sämtliche Akten des Kreishauses auf seinem Schreibtisch aufbewahrte und sie alle selbst bearbeitete. Nachher, wenn ich zu ihm ging, ihn um eine Unterschrift zu bitten, wurde gelegentlich offenbar, daß des Herrn Amtmanns Schreibtisch zum Schreiben keinen Platz mehr hergab. Das machte dem erfinderischen Beamten nichts aus. Kurzerhand nahm er das Schriftstück, legte es an die Wand, unterschrieb und gab es mir zurück; die ganze Prozedur dauerte ungefähr eine halbe Minute. Und wenn er, der Herr Amtmann, nach einer bestimmten Akte gefragt wurde, dann brauchte er sich keineswegs nach dem biblischen Rat „Suchet und ihr werdet finden" zu richten; spontan und zielsicher griff er in den Aktenwust und zog das benötigte Papier heraus.

Ohne viel Aufhebens hatte Herr Schneider uns über alles Tun und Lassen belehrt, führte uns durchs Haus und stellte uns in den einzelnen Abteilungen vor. Er begann vis a vis der Abteilung K. Dort, im Postbüro, saß Herr Sehend („Schiente Juhsepp"), der Postbote, der die Botengänge zum Postamt machte und die Post im Haus hin und her trug. Dabei war er, der selbst wenig Spaß verstand, zu allerlei Schabernack fähig. Im gleichen Büro arbeitete Fräulein Deblon, in Daun als „Deblons Mahltje" bekannt. Sie hatte dem Amt schon seit Jahr und Tag treu gedient. Das sah man ihr auch an, sie war nicht mehr die Jüngste. Den ganzen langen Tag saß sie an ihrer altertümlichen Continental-Schreibmaschine und hämmerte unaufhörlich darauf herum. Dabei starrte sie stets und ständig auf das Tastenfeld. Wie müde, dachte ich, müssen abends ihre Augen sein und erst recht ihre beiden Zeigefinger; sie waren die einzigen, die alle Arbeit taten. Danach wurde das Geschriebene - das war Verwaltungspraxis - mit dem Originaltext verglichen; das erledigten zwei Schreiber.

Neben dem Postzimmer lag ein ganz und gar unentbehrliches Büro. Es war die Kreisgemeindekasse, die später Kreiskasse hieß. Hier arbeiteten zwei Männer: der Rentmeister Julius, ein beleibter Herr, adrett-straff gekleidet, und sein Gehilfe, der Martin, ein junger Mann mit gewelltem Haar, den ich aus meiner Handelsschulzeit kannte. Er war es, der gemeinsam mit Herrn Inspektor Paul Saxler, dem Rechnungsprüfungsamtschef, allmonatlich in die Schule kam, um das Schulgeld zu kassieren. Dieser Martin, mein späterer geschätzter Kollege, erweckte in mir ungute Erinnerungen. Bei seinen Inkassobesuchen in der Handelsschule bescherte er mir -sicher von ihm ungewollt - nicht selten einen roten Kopf, dann nämlich, wenn ich vor der ganzen Klasse eingestehen mußte, daß ich das Schulgeld nicht bezahlen konnte und deswegen einen Verweis von der Schule zu befürchten hatte. Das Schulgeld betrug im Monat zwanzig Mark. Und zwanzig Mark waren es auch, die ich anfangs beim Landratsamt verdiente - im Monat. Der erste Geldschein war nagelneu. Der Kassenchef hatte ihn selbst ausgesucht und gab ihn mir mit dem fast feierlichen Hinweis, daß er wohl mein erstes selbstverdientes Geld sei. Einige in der Schlange der Bargeldlohnempfänger Stehenden schmunzelten. 

 

An die Kreisgemeindekasse angrenzend, zum Hof hin, direkt neben der Treppe, war ein geräumiges Zimmer. Hier hatte das Amt für Soforthilfe (SH) seine Bleibe. Herr Simon und Herr Becker waren die Bediensteten. Später ist aus dem SH-Amt das Lastenausgleichsamt geworden. Nach dem kurzen Besuch im SH-Büro führte uns Herr Schneider, stramm-militärisch voranschreitend, die Treppe hinauf, über knarrende Dielen, in das erste Stockwerk. Zuallererst zeigte er uns die Verkehrsabteilung; sie war in einem einzigen Zimmer - im ersten Büro, links von der Treppe aus gesehen - untergebracht. Der Chef der Zwei-Mann-Abteilung war Herr Kreisangestellter Schütze. Daneben hatte der Leiter der Staatlichen Abteilung, Herr H., sein kleines Büro, das, unter anderem mit einer Couch ausgestattet, ihm gelegentlich auch als Schlafstätte diente. Herr H., im vorgeschrittenen Mannesalter, schien körperlich etwas klein geraten, weshalb ihn sein Trierer Kollege „De Klaane" nannte. Dafür kam der Herr Abteilungsleiter sich aber ziemlich wichtig vor, vor allem wenige Tage später, als er mich auf der Straße anrempelte, weil ich ihn nicht ehrfürchtig gegrüßt hatte. Meine Entschuldigung, daß ich mirin der kurzen Zeit nicht alle Gesichter habe merken können, wies er barsch zurück und drohte, sich höherenorts zu beschweren. Vielleicht tat er es genauso wenig wie sein junger Mitarbeiter, ein etwas hochnäsiger Regierungsinspektor, der mich ähnlich anwies. Er meinte, wenn ich ihm auf der Straße begegnete, hätte ich alle Aufmerksamkeit ihm zuzuwenden, anstatt mich für die Schaufensterauslagen bei Minningers zu interessieren.

Im gleichen Flur, an der Straßenfront, lagen wichtige Gemächer: das Landratsbüro, das Landratsvorzimmer und der Sitzungssaal. Im Vorzimmer wirkte Chefsekretärin Josefa Schneider. Das Landratszimmer war zwar besetzt, aber nicht mit einem Landrat. Dieser, seit 1945 in damals besonders schwerem Amt, war wegen seiner angegriffenen Gesundheit kurz zuvor pensioniert worden: Herr Johann Feldges, ein hochgeachteter und gütiger Mann, den der Volksmund respektvoll „Vater des Kreises" nannte. Seinen Platz nahm - auf Weisung des Herrn Regierungspräsidenten - vertretungsweise Herr Regierungsrat Stichter, ein staatlicher Beamter, ein. Es dauerte nicht lange, da gab es Zuständigkeitsprobleme zwischen ihm und dem kommunalen ehrenamtlichen Kreisdeputierten. Jeder wollte Vertreter des Landrats sein. Herr Stichter, dem der Zweite Weltkrieg auch ein hohes Gesundheitsopferabverlangt hatte, empfing uns sehr freundlich und sprach uns Mut zu. Vom Landratsbüro aus führte eine Tür zum Sitzungssaal, den großformatige Fritz von Wille-Gemälde zierten. Er war natürlich auch vom Flur her zu erreichen; über seinen Leder-Holz-Doppeltüren stand groß geschrieben „Kreisständesaal".

Direkt gegenüber befanden sich die Büros des Landwirtschafts- und des Versicherungsamtes. Hier hatte Herr Regierungsobersekretär Pflüger das Sagen. Seine besonderen Erkennungsmerkmale waren ein kräftiger Schnauzbart und eine Zigarre im Mund. Fräulein Lisbeth war seine einzige Mitarbeiterin, ihre Stimme markant und hausbekannt; jedesmal, wenn sie ihren Chef vermißte - und das schien sozusagen jeden Tag der Fall gewesen zu sein -, erschallte ihr fast verzweifelnder Suchruf, in allen Winkeln des Hauses deutlich vernehmbar: „Härrr Pflüüh -hgörrrr".

Die Speicherbüros im zweiten Obergeschoß waren schnell angesehen. Zwei Bauämter hatten hier ihren Platz: das Hochbauamt mit Herrn Binzen an der Spitze und das Tiefbauamt, dem Herr Meisen („Neise Juhsepp") vorstand.

Meinen Lehrlingsplatz bekam ich beim Fürsorge- und Jugendamt. Die Leiterin, Frau Tüx, und alle Bediensteten empfingen mich sehr freundlich. Dort fühlte ich mich von der ersten Stunde an wohl. Daß da nahezu dreißig Jahre mein dienstliches Zuhause sein würde, konnte ich damals nicht ahnen. Es war jedenfalls eine neue Welt für mich. Ich erlebte tagtäglich und zuhauf Dinge, die mir fremd, unverständlich waren. Hier wurde ich beispielsweise gewahr, daß es Eltern gibt, die ihre Kinder einfach im Stich lassen, zum Beispiel die Eheleute K. Sie waren heimatlose Wanderer. Mir nichts, dir nichts lieferten sie ihre beiden Kleinen beim Jugendamt ab und setzten ihre Wanderschaft fort. Noch brutaler kam mir vor, was dem kleinen Peter widerfuhr. Seine Mutter hatte ihn im Krankenhaus zur Welt gebracht. Dann raffte sie nachts heimlich ihre Siebensachen zusammen, stieg aus dem Fenster und machte sich aus dem Staub, auf Nimmerwiedersehn.

Und die vielen Menschen mit verschiedensten Behinderungen, die uns ständig besuchten! Sie alle taten mir anfangs leid. In späteren Jahren lernte ich, daß sie kein Mitleid wollten, keins brauchten, sondern Verständnis und angemessene Hilfe von der Gesellschaft, in der sie lebten.

Da gab es noch eine Besuchergruppe, eine ziemlich große sogar, deren Schicksale mein kindliches Gemüt arg berührten. Es waren die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Von überall kamen sie her, die aus ihrer Heimat Verjagten: aus Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien, aus Böhmen und Mähren, Rumänien, Jugoslawien, der Ukraine und anderen fernen Ländern. Viele erzählten von den Grausamkeiten ihrer Flucht und immer wieder vom Heimweh, das sie hier Tag und Nacht plagte. Zahlreiche Flüchtlinge kamen aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), die sich als „Deutsche Demokratische Republik" (DDR) bezeichnete; Jahre danach haben wir, die in der Bundesrepublik lebten, sie auch so genannt.

 Für das Herzeleid, das mir die Erzählungen bereiteten, wurde ich reichlich entschädigt: durch das Studium der Mündelakten. Viele davon nahm ich mir vor, oft heimlich, dafür aber gründlich.

Betriebsausflug 1955

Sie waren für meine Begriffe außergewöhnlich informativ und hatten einen hohen Unterhaltungswert. Nur eines störte mich, die Haltung etlicher Männer, sogenannter unehelicher Väter. Zuweilen hatte ich den Eindruck, daß sie nicht zu den Folgen ihrer menschlichen Schwäche stehen wollten, und deshalb logen sie oder versuchten, anderen das „Unglück" in die Schuhe zu schieben. Das fand ich feige. In den nachfolgenden Prozessen jedoch sorgten die Richter dafür, daß die Wahrheit ans Licht kam. Übrigens: In der Gesetzessprache war damals von „Vätern" nicht die Rede; da wurden sie (welch ein Wort) „Erzeuger" genannt und galten nach dem Wortlaut des Gesetzes - wie paradox - als mit ihren Kindern nicht verwandt.

Im Winter 1968 war die Zeit des Abschieds von der vertrauten, atmosphärischen Arbeitsstätte gekommen. Wir zogen mit unserem väterlichen Chef, Herrn Landrat Martin Urbanus, in die Mainzer Straße, ins neue Kreishaus, um. Das alte Landratsamt jedoch, in dem ich die schönsten Dienstjahre verbracht habe, ist mir stets nahegeblieben. Und so empfand ich es als eine glückliche Fügung, daß mich vor Jahren Herr Landrat Karl-Adolf Orth beauftragte, über eine sinnvolle, eine kulturelle Nutzung unseres denkmalwerten Kleinods nachzudenken. Dies habe ich getan, sehr gern und sehr gründlich. Das Ergebnis, ich habe es vielfach erklärt, schriftlich niedergelegt, und es hat sich hoffentlich herumgesprochen: Das Landratsamt ist ein historisches Gebäude, in ihm wurde Jahrzehnte hindurch Kreisgeschichte geschrieben; deswegen muß aus ihm ein „Kulturhaus" - und es darf nichts anderes - werden.

In jüngster Zeit hat man das altehrwürdige Haus prächtig herausgeputzt, es braucht sich vor der neuen, fremden Nachbarin, dem Forum, nicht zu genieren. Ob das ungleiche Paar (architektonisch) wohl miteinander harmonieren wird?

Mit Verlaub gesagt: Ich zweifle daran.