Einer sagt danke

Lotte Schabacker, Daun

 

Es ist schon einige Zeit her, aber ich kann es nicht vergessen. Er war einer der Winter, die es ernst meinten, die sich nicht lumpen ließen. Ende Januar. Bitterkalt. Es ging auf den Abend zu.

Fast eine Stunde Aufenthalt in Köln, die ich im Bahnhofswartesaal absaß. Als schließlich mein Zug die Halle verließ, hatte sich die Welt verändert; sie war weiß geworden. Das Wetter hielt also, was es den ganzen Tag über versprochen hatte, hörbar im Funk, sichtbar am Himmel: Schnee und Sturm! Beides hatte sich in Marsch gesetzt von Süden nach Norden, wir fuhren also genau ins Abenteuer hinein. Der Zug war auf dem Weg nach Saarbrücken; ich mußte ihn in Gerolstein verlassen.

Ich fahre gern mit dem Zug. In aller Ruhe ein Buch lesen; sichere Parkplätze sind die ehrwürdigen Bahnhöfe, kein Schilderwald, keine Überholmanöver, und wenn man Lust hatte, könnte man auf dem Gang Spazieren gehen. Aber der war diesmal verstopft. Es war Freitagabend, die Menschen wollten über's Wochenende nach Hause, die meisten wohl in irgendein Nest südlich von Köln. Er war überfüllt, der Zug, und er wurde mehr und mehr zum Spielzeug, das sich leichtsinnigerweise mit einem heulenden Inferno eingelassen hatte, bestehend aus lauter weißen, bösartigen Pranken. 

In Gerolstein, wo ich sonst für die letzte Strecke mit dem Wagen abgeholt wurde, da der Bus einen langen Umweg „über die Dörfer" machen mußte, war das Malheur nicht mehr zu übersehen. Das war kein hübsches Eifelstädtchen im Schnee, das war oben und unten Mehl auf jaulender Flucht, sonst nichts. Und niemand da, der mich heimholte.

Nein, sagte der Fahrer des letzten Bahnbusses, da kommt schon seit etwa einer Stunde kein PKW mehr durch. Natürlich auch keine Taxe. Die Leute sind weder mit dem Streuen noch mit dem Räumen nachgekommen. Wenn Sie heute noch nach Daun wollen, müssen Sie mit mir fahren...

Der Bus war voll besetzt. Für munteren Radau sorgte eine Gruppe junger Leute im hinteren Drittel, die gleichfalls dem Kölner Zug entquollen war, nach dem leistungsfähigen Mundwerk zu urteilen offenbar Studenten, dem Dialekt nach Eifelkinder. Die würden sogar aus dem Weg zur Hölle einen Jux machen. 

Der erste Schwung schon, der das Hinterteil des Fahrzeugs herumsegeln ließ, hätte einem Karussell Ehre gemacht, aber leider war dies ein Omnibus. Nach den nächsten Ausrutschern, kurz hintereinander, stand vorne einer halb auf, um die Straße besser kontrollieren zu können. Dann noch einer und noch einer. „Hinsetzen!" Auch die hinteren Fahrgäste wollten gern wissen, was sie vor sich hatten. Aber dies war ein Schulbeispiel für den Unterschied, ein Schneegestöber zu betrachten oder es zu durchschauen. Die Umwelt war nicht, wie sonst, einfach da, sie bildete sich immer erst kurz vor der Busnase, formte sich aus den Lichtkegeln der Scheinwerfer und wurde dann auch noch, wie es schien, magnetisch, sodaß unser „Schlitten" mit widerlichem Schlurfen die Kurven nur ganz knapp an ihr vorbeikratzen konnte. Und dann erschien immer mal wieder Umwelt, wo früher bestimmt keine gewesen war; Riesenschneeklumpen, der Form nach Autos...

Und noch fataler die Anziehungskraft des Nichts, hinter dem der hier Beheimatete Abgründe wußte, nicht gerade Schluchten, aber doch Hänge, die für einen Busabfahrtslauf zu steil waren. Viel zu steil.

Die ersten, die mit dem Schweigen begannen, waren die Studenten. Junge Leute haben heutzutage eher als ältere eine Nase dafür, ob eine Fahrt glatt abläuft oder nicht. Wenn sie doch noch mal den Mund auftäten. Irgendeine Redensart, sie müßte gar nicht besonders schlau sein. Aber nichts! Statt dessen eine Altfrauenstimme: „Was fährt der so komisch, der rutscht ja immer!" Dieser Satz war so richtig wie nur möglich, aber den hätte man viel lieber nicht gehört. 

Der Bus bestätigte gleich und mit großem Erfolg diese Äußerung und machte aus jeder Kurve eine Affäre. Wenn wir doch erst auf der langen Geraden wären, zwischen...ja, wie hießen denn die Dörfer noch?

Aber diese Gerade, hoch gelegen und leicht ansteigend, war vom Sturm bloßgefegt bis auf den spiegelglatten Asphalt. Slalom bergauf! Plötzlich ein Ruck. Eine Pause. Setzte der Motor etwa aus? Aber er besann sich. Fürs erste. Wenn doch einer was gesagt hätte: Der nächste Frühling kommt bestimmt oder so. Aber nichts als Schweigen, denn die weißen Fahnen, die über die Scheiben wischten, planten nicht Ergebung, sondern Automord. Und dort, wo sie ins Scheinwerferlicht gerieten, wurden sie zu wütend glimmendem Phosphor, den die Schwärze gebar.

Da, was war das? Zwei verwischt-gelbliche Augen, weit auseinanderstehend, rutschten im Kreuzundquergang heran. Waren schon ganz nah. Auch ein Bus? Jedenfalls ein Riesenfahrzeug. Das konnte gar nicht gut gehen, aber irgendwie schlenkerte man dann doch aneinander vorbei. 

Lieber Gott, keine Lampen mehr! Man hörte förmlich die stummen Bitten. Dann eine vor Angst schrille, weibliche Stimme: „Um alles in der Welt, steck' die Zigaretten weg!" Keine Gemütsruhe, zu überdenken, ob das ein sinnvoller Satz war. Aber als der Bus im nächsten Dorf zum Stehen kam, sah man niemanden rauchen. Wären wir doch erst wieder im Tal! Aber unten war alles vollgestopft mit Schneewehen. Unser Riesenwurm wand sich, legte sich ächzend schräg, fraß sich dann durch. Endlich - wie viele Jahre waren das - die Lichter der Endstation. „Wir sind da", sagte jemand, als der Bus zur Ruhe kam. Welch ein Quatsch! Das sah man ja. Aber es klang den Ohren wie Musik, Mozart war nichts dagegen.

Der Sturm hatte im Moment nachgelassen, der Schnee tat ganz unschuldig. Aber mir zitterten die Knie, den anderen wohl auch. Wir verließen den Bus, langsam und stumm, jeder mit sich selbst beschäftigt. Nur der Herr, der hinter mir ausstieg, sagte zum Fahrer: „Danke!" Ach ja, der Fahrer! Ich blickte mich kurz nach ihm um, sah im schrägen Licht einer Laterne Schweißperlen auf seiner Stirn. Er habe nur seine Pflicht getan, murmelte er. Aber er lächelte.