Die prophetische Großmutter oder als das erste Auto ins Dorf kam

Heinz Reuter, Bodenbach

 

Wer von unseren Zeitgenossen kann von sich behaupten, er habe noch die Ära erlebt, in der es das Auto noch nicht gab? Niemand - es sei denn, er wäre mindestens 106 Jahre alt, denn das erste Auto erblickte in unseren Landen 1886 das Licht der damals motorlosen Welt. Aber meine Großeltern haben das alles miterlebt und meinem Vater und auch mir oft erzählt, wie das war, als zum ersten Mal ein „Automobil" wie man dazumal den ohne Pferde fahrenden Wagen nannte - durch ihr Eifeldorf fuhr.

Es war Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts; der Automobilbau hatte bereits große Fortschritte gemacht, es gab inzwischen schon eine größere Anzahl dieser neumodischen Vehikel. Nur im Dorf der Großeltern war noch keins gesehen worden. Von der Dampfmaschine, die zur Lokomotive geworden war, wußte man natürlich; der eine oder andere war auch schon einmal mit der Eisenbahn gefahren. Ein paar Männer des Dorfes hatten sogar beim Bau der Strecke Düren-Schleiden-Trier mitgearbeitet und so das karge Familieneinkommen spürbar aufbessern können.

Es hatte sich im Dorf herumgesprochen, daß ein früherer Mitbürger, ein „Studierter", der als Arzt in der Kreisstadt seine Praxis hatte, auch schon ein Auto besaß. Eines Tages ging es wie ein Lauffeuer durch das Dorf: In der folgenden Woche komme „der Doktor" mit seinem Automobil zum Besuch der Verwandtschaft. Diesem nicht alltäglichen Ereignis sah man natürlich mit Spannung entgegen. Damit niemand die Ankunft des kühnen Automobilisten verpasste, hatte man Kinder weit vor den Dorfeingang an die Landstraße geschickt, die sofort signalisieren sollten, wenn sie das Wunderding in der Ferne auftauchen sahen.

Und dann war er endlich da, der Wagen ohne Pferde. Mit lautem Töff-Töff und unter Aufwirbeln von viel Staub fuhr er durch die Dorfstraße und hielt schließlich, sofort umringt von groß und klein. Jeder wollte das Automobil aus nächster Nähe nicht nur sehen, sondern auch mit den eigenen Händen einmal berühren.

Unter denen, die am Straßenrand dem großen Ereignis erwartungsvoll - manche mit etwas Skepsis - entgegensahen, waren natürlich auch meine Großeltern. Als der Doktor langsam und freundlich winkend an ihnen vorbeifuhr, tat die Großmutter kopfschüttelnd den prophetischen Ausspruch: „Et kommt noch so weit, se fliegen noch durch de Luft."

Diese Vorhersage hat sich dann ja voll erfüllt, jeder Zeitgenosse kann's heute aus eigener Erfahrung bestätigen, denn auch über das kleinste Eifeldorf donnern tagtäglich die Düsenjäger hinweg - was Großmutter gottlob nicht mehr erlebt hat.