Helfende Strahlen

Lotte Schabacker, Daun

 

Diese Untersuchung gehört heute zur Routine in allen Krankenhäusern und größeren Arztpraxen, auch in denen, die abseits der Riesenstädte liegen, etwa mitten in der Vulkaneifel; in Gerolstein, Jünkerath, Daun.

Patienten im Warteraum einer Röntgenabteilung. Ein Name wird aufgerufen. Derdazugehörige Mensch setzt sich in Marsch, wird freundlich in eine Kabine dirigiert. Diesmal geht's um eine Lungenaufnahme. „Bitte Oberkörper freimachen!" Das ist schnell getan.

Die gegenüberliegende Tür der Kabine führt in den Aufnahmeraum. Hier hat sich der Patient vor ein Stativ, an dem in Brusthöhe eine silbrige Platte befestigt ist, zu stellen. „Oberkörper an die Platte, Kinn auf die obere Kante legen, Schultern nach vorn, Ellbogen zur Seite!" Zwei helfende Hände, die korrigieren, zurechtrücken, sanft drücken. Ein paar liebenswürdige Worte: „Die Platte ist kalt, nicht wahr! Na, ist ja gleich vorüber. So isf s gut, ganz ruhig stehenbleiben".- Schritte entfernen sich. Ein leises Rauschen. „Bitte tief einatmen, Luft anhalten...ausatmen. Fertig. Sie können sich wieder ankleiden".

Der ganze Vorgang hat kaum fünf Minuten gedauert. Welch weiter, mühsamer Weg bis hierher. Und ein gefährlicher dazu. Schon Prof. Wilhelm Conrad Röntgen, der 1895 durch Zufall diesen Strahlen, die später nach ihm benannt wurden, auf die Spur kam, hat sich an ihnen die Hände verbrannt. Und auf diesem Weg treffen wir eine Frau an, die als erste fahrbare Röntgenausstattungen auf die Beine brachte, 200 Röntgenstationen einrichtete und selbst perfekte Röntgenärztin wurde; im I. Weltkrieg in Frankreich. Es war jene Frau, die das Radium entdeckte, das ebenfalls heute und auch hier bei uns bei der Diagnose und Therapie der Geschwulstkrankheiten eine große Rolle spielt; das vielen Menschen das Leben rettet oder

doch verlängert. Sie selbst wurde von dem strahlenden Element umgebracht:

Marie Curie.

Wir sollten sie nicht vergessen.

Zum ersten Mal in Ihrem Leben konnten sich 1903 die Eheleute Pierre und Marie Curie ein ordentliches Labor leisten, vom Geld, das ihnen der Nobelpreis für Physik eingebracht hatte. Und darüber hinaus erfüllte sich die Ehefrau einen großen Wunsch - ein Badezimmer. Der Traum einer Wissenschaftlerin, die reines Radium herstellen konnte, von dem 1903 ein Gramm eine Viertelmillion Mark kostete!

An das Badezimmer und immensen Reichtum hätten die Curies schon einige Jahre früher kommen können, wenn sie sich das Aufbereitungsverfahren des Radiums aus Unmengen von Pechblende patentieren ließen; die Rechte für die Herstellung hätten dann allein bei ihnen gelegen. Dies aber wäre, so fürchteten sie, das Ende ihrer wissenschaftlichen Arbeit gewesen, und das war das letzte, was sie wollten. Marie und ihr Mann liebten ihre Forschungen über alles; an Armut war Marie gewöhnt.

Außerdem paßte eine solche Methode nicht in Maries Weltanschauung. Das würde dem wissenschaftlichen Geist nicht entsprechen, meinte sie. Physiker veröffentlichten die Ergebnisse ihrer Forschungen stets uneingeschränkt. Das Radium würde Kranken dienen, es schiene ihr unmöglich, davon zu profitieren. „

Radium soll niemanden bereichern. Es ist ein Element. Es gehört der ganzen Welt!"

Marie war die Tochter des schlechtbezahlten Gymnasiallehrers Wladislaw Sklodowski, am 7.11.1867 in Warschau geboren. Sie hatte noch drei Geschwister, auch deren Ausbildung kostete die Familie viel Geld. So mußte Marie bis zu ihrem 25. Lebensjahr warten, ehe sie endlich in Paris studieren konnte. Ihre Traumfächer waren Physik, Chemie, Mathematik. Bis dahin hatte sie sich als Lehrerin durchgeschlagen, eine Tätigkeit, die damals sehr wenig einbrachte.

Marie hatte in Paris viel nachzuholen und war unendlich fleißig. Obgleich ihr das Geld für ausreichende Nahrung und Beheizung ihrer Mansarde im Quartier Latin fehlte und sie einige Male vor Erschöpfung zusammenbrach; in dem zarten Mädchen steckte ein eiserner Wille. Unbeirrbar machte sie weiter, sie bestand jede Prüfung mit der Note „ausgezeichnet" und man betraute sie noch während des Studiums mit selbständigen Arbeiten. Dabei lernte sie den trotz seiner Jugend schon bekannten Physiker Pierre Curie kennen und lieben. Sein Gebiet: Struktur und Eigenschaften der Kristalle. Seine Arbeiten über den Magnetismus mündeten später im Curieschen Gesetz.

1895 heirateten die beiden, und ab 1896 gab Pierre sogar seine eigenen Arbeiten auf, um Marie helfen zu können. In ihrer Doktorarbeit ging es dann um die von Antoine Henri Becquerel (1852 - 1908) aufgefundene Radioaktivität. Marie war überzeugt, daß die Strahlungen noch nicht entdeckten Elementen zuzuschreiben waren. Sie arbeitete mit den verschiedensten Materialien, suchte hartnäckig und unermüdlich (wobei ihr die physikalisch-theoretischen Überlegungen ihres Mannes sehr nutzten). Und sie fand!

Nach der Entdeckung der Radioaktivität des Poloniums ( so genannt nach ihrer geliebten, polnischen Heimat) die des Radiums.

Als Labor für all diese Arbeiten diente dem Ehepaar ein alter, baufälliger, nicht beheizbarer Schuppen; technische Hilfsmittel fehlten fast ganz. Als Curie die Ehrenlegion angeboten wurde, winkte er ab. Er brauche keinen Orden, sondern ein Labor, soll er gesagt haben. Auch das Aufbereitungsverfahren gaben die beiden preis, um ihrer Forschertätigkeit willen. Sie blieben arm und mußten noch jahrelang auf ein Labor, das diesen Namen verdiente, warten. Der Nobelpreis (Physik) für das Ehepaar zusammen mit Becquerel machte es dann möglich, mitsamt dem Badezimmer.

Marie ruhte sich nicht auf dem Preis aus, sie forschte rastlos weiter. Ihre Arbeiten über die physikalischen, chemischen und biologischen Wirkungen der radioaktiven Strahlen führten zu einem neuen Wissenschaftszweig, der Radiochemie. Die Curies waren wohl die ersten Menschen, die ahnten, welche Bedeutung ihre Entdeckungen später für die Menschheit haben würden. Und wer sonst hätte damals die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten der medizinischen Röntgenologie voraussehen können, mit der Marie sich ebenfalls intensiv beschäftigte. Aber die „besseren Zeiten" dauerten nicht lange. 1906 starb Pierre Curie bei einem Verkehrsunfall. Den Tod des geliebten Mannes konnte Marie nie verwinden. Sie nahm die gemeinsame Arbeit nun als Vermächtnis, dem sie sich mit allen Kräften widmete. Schließlich wurde sie zur Nachfolgerin ihres Mannes auf den Lehrstuhl für Physik an der Sorbonne berufen.

Marie lehnte nach Pierres Tod ebenfalls die „Ehrenlegion" ab, wäre aber gern in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden.

Womit sie nicht rechnete, da ihr diese Dinge wesensfremd waren - mit dem Netz der Kabalen, des Neides, mit Gemeinheiten und Intrigen der Zeitgenossen, mit Bosheit und Verleumdungsfeldzügen.

Da wurde den Katholiken versichert, sie sei Jüdin, und den Freidenkern, daß sie Katholikin wäre.

Sie fiel durch: Eine Stimme zu wenig! Man hatte einem ihrer Anhänger, einem alten, fast blinden Herrn, einen falschen Stimmzettel in die Hand gedrückt.

1911 wurde ihr zum zweiten Mal der Nobelpreis zuteil, diesmal für Chemie. Zwei Nobelpreise -das schaffte bis heute außer ihr niemand.

Wer sich um dieses Phänomen offenbar am wenigsten kümmerte, war Marie selbst. Sie verbat sich alle Ehrungen, lebte völlig zurückgezogen und arbeitete weiter bis zur Erschöpfung. Sie war Wissenschaftlerin, Lehrerin, Röntgenologin, Mutter, später Titularprofessor, Laboratoriumsleiterin und Forscherin; sie hatte keinen freien Augenblick, um auch noch die Rolle der berühmten Frau zu spielen.

In finanzieller Hinsicht erwies sich das Ausland, vor allem Amerika, sehr viel großzügiger als ihr „zweites Vaterland" und sie unternahm eine äußerst strapaziöse Reise durch die ganze USA, um durch Vorträge an Geld zu kommen. Endlich wurde die Gelehrte, die materiellen Gewinn immer weit von sich gewiesen hatte, für ihre Kollegen zur Vorkämpferin für wissenschaftliches Eigentumsrecht. Ihr Ziel war, den Wissenschaftlern Urheberrechte zu sichern, sie für Arbeiten zu entschädigen, die, ohne Absicht auf Gewinn unternommen, zur Unterlage industrieller Verwertung werden. Es war ihr Traum, auf diese Weise Abhilfe für die ewige Notlage der Laboratorien zu schaffen, indem von den Eingängen aus diesen Rechten eine Subvention für die reine Forschung in Abzug gebracht wurde. Um hier erfolgreich zu sein, nahm sie die Mitgliedschaft der Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit an (1922); auf die Aufforderung des Völkerbundes hin.

Früh schon merkte Marie, daß das Material, das sie so faszinierte, ihre Gesundheit bedrohte. Und sie wußte, wenn der menschliche Körper unkontrollierter Radioaktivität ausgesetzt ist, kann das zum Gewebetod führen.

Die strahlende Substanz machte die Wissenschaftlerin nicht nur krank, sie führte schließlich auch zu ihrem Tod. Maries Arme und Beine bedeckten sich im Lauf der Zeit mit Brandwunden, das Blut zersetzte sich. Man dachte an Tuberkulose, als Marie im Sanatorium von Sensellemoz behandelt wurde. Später aber trug man ihre Krankheit als schnellverlaufende Anämie in den ärztlichen Bericht ein und fügte hinzu:"...das Knochenmark hat nicht reagiert, anscheinend weil es durch andauernde Einwirkung der Strahlungen Veränderungen erlitten hatte..."

Marie Curie starb am 4.7.1934. Sie erlebte noch nicht mal mehr, daß ihre Tochter Irene zusammen mit ihrem Mann, dem Atomphysiker Frederic Joliot, 1935 den Nobelpreis für Chemie erhielt (künstliche Radioaktivität).

Bei Maries Beerdigung gab es keinen Trauerzug, keine offiziellen Vertreter des Staates nahmen daran teil. Sie wurde auf dem Friedhof von Scaux auf dem Sarg ihres Mannes - diese ungewöhnliche Form der Beisetzung hatte sie sich gewünscht - bestattet. Nur nächste Verwandte und Mitarbeiter begleiteten sie zur letzten Ruhestätte, und ihre Geschwister warfen eine Handvoll polnische Erde ins Grab.

Der„normale" Mensch ist wohl eher erschrocken und erschüttert, wenn er sich Maries Leben vergegenwärtigt. Wie war sie? Sympathisch, zielstrebig, wissensdurstig -

oder ehrgeizig, versessen auf Erfolg? Und war sie trotz allem auf ihre Art glücklich? Wir möchten es gern glauben.

Vielleicht ist es aber hier gar nicht angebracht, so zu fragen. Marie Curie war ein Genie. Ihr Leben paßte nicht in die herkömmliche Norm.

Sie ging unbeirrbar ihren Weg, weil sie ihn gehen mußte. Und vielleicht stimmt es, daß Genies unter einem „Sondergesetz" stehen. Wie dem auch sei; wir haben ihr unendlich viel zu verdanken!