Laudatio auf (m)eine Lesebrille

 

Sehhilfe nennt man sie, Ersatzteil, Nasenfahrrad. Gemeint ist die erste Brille, Erfindung von unschätzbarem Wert.

Bereits in jungen Jahren machen viele Menschen mit ihr Bekanntschaft, angeborene Sehschwäche ist der Grund. Doch meist bekommt man das „gute Stück" in der zweiten Lebenshälfte und die Reaktion darauf ist selten himmelhochjauchzend.

Also eine Brille, nun bin ich alt.

Wer die NEUE mit Optimismus annimmt, ihr mit Humor begegnet, hat schon gewonnen.

Sie hat Vorteile.

Die guten Seiten sind bald zu erkennen.

Auf einmal kann man wieder den Fahrplan lesen, im Geschäft Preisschildchen entziffern, das Kleingedruckte auf Rechnungen und Formularen wird ersichtlich.

Aber die Brille kann noch mehr.

Ich gehe davon aus, daß sie paßt, weder auf der Nase noch an den Ohren drückt, vielleicht noch ein wenig gut aussieht?

 Dann ist sie schon weit mehr als eine Sehhilfe.

Beispiele?

Bitte: Wer als Lehrerarbeitet, ärgert sich oft über Grimassen der Schüler in der letzten Bank -Referenten klagen über gelangweilte Gesichter beim Vortrag und wer nur ab und an eine REDE hält, ist beim Anblick vieler Menschen verunsichert.

Die Brille hilft; schnell, unauffällig.

Durch sie betrachtet verschwimmen die Umrisse, Personen lösen sich sanft und diffus auf, jede vermeintliche Aggression ist dahin - ich hab's probiert.

Ein Lob für meine Brille!

Außerdem kann sie zaubern.

Da schau ich aus dem Küchenfenster an einem Morgen im Januar. Der Blick durchs konkave Glas macht halt bei etwas Blauem -

ein vorzeitiges Blümchen, ein Schneeglanz?

Alles Spuk, Spielerei, optische Täuschung. Ohne Brille die Realität -

die „blaue Blume" war ein simpler Regentropfen, in dem sich das Licht brach, mein Augenglas hat mir da was „vorgespiegelt".

Eine Ent-Täuschung?

Das sehe ich anders.

Für mich war der kleine Schwindel ein freundliches Blendwerk, kleines Geschenk, Lichtblick am Morgen. Es kommt immer darauf an, wie man die Dinge „sieht".

Der Alltag mit Brille ist neu,

manchmal ein wenig verwirrend, zumindest in den ersten Monaten mit Ihr. Durch positive Einstellung zum Unvermeidlichen geht alles besser.

Schließlich wäre mancher Zeitgenosse ohne dies Hilfsmittel blind wie ein Maulwurf, keine Zeitung, kein Buch könnte man lesen und der Tag blieb grau, arm; der Mensch recht hilflos.

So sei ihr Lob gesagt, der Lästigen, Nützlichen - Modemacher meinen, sie könne durchaus auch eine Schöne sein. Gewiß ist sie die Unauffindbare, wenn man sie gerade benötigt. Als ich sie das erste Mal verlegt hatte, kam mir ein Spruch meines Vaters in den Sinn, der meinte -und ich verstand das als Kind nie - er brauche drei Brillen. Einefürdie Nähe, einefürdie Ferne und die dritte, um die beiden zu suchen.