Fahrschüler -

gestern ist noch gar nicht lange her

Margaretha Rosar, Leverkusen

 

Ist das eine ausgestorbene Spezies? Vermutlich ja, denn ich habe heute nirgendwo in Bussen und Bahnen eine solche Ansammlung von Schülerinnen und Schülern gesehen, die sich zusammengerottet als Einheit verstanden. Gegen andere Erwachsene, gegen Obrigkeit, gegen alle, die ihnen den Freiraum nehmen wollen, der ihnen ihrer Meinung nach zugestanden werden sollte.

Wir waren früher, vor einigen Jahrzehnten, eine solche Zusammenrottung. Wir, das waren alle diejenigen, die nicht in eine »weiterführende« Schule des Heimatortes Gerolstein gehen durften und konnten. Vor allem wir Mädchen. Nicht einmal die Tochter unseres Rektors durfte das. Für Mädchen waren Schulen Luxus. »Du heiratest ja doch« - hieß es, und heißt es manchmal heute noch. Ein Aufwand an Geld und Aufmerksamkeit in die Ausbildung eines Mädchens zu investieren, war eben Luxus, und deshalb überflüssig. Diese Frage stellte sich auch mein Vater. Nach Abschluß der Volksschule, mit zugegeben guten Noten, bettelte ich täglich, doch nach Trier auf die Handelsschule fahren zu dürfen. Nun ja, da mein Vater Bahnbeamter war - und das Kindergeld nur so lange gezahlt wurde, wie ich nichts verdiente -kam also eine Schule in Frage.

Bei den Ursulinen in Trier war der geeignete Aufenthaltsort für Mädchen. Also wurde sich erkundigt, was es dort kosten würde.

Abgelehnt, viel zu teuer! Für ein Mädchen soviel Geld ausgeben? Nein! Ich hatte heimlich wahnsinnige Ängste. Bei den Ursulinen? Himmel, das bedeutete Drill, Aufsicht rund um die Uhr, abends um acht Uhr Licht aus, nicht mehr lesen dürfen, was gerade interessant war, von anderen Mädchen verpetzt werden, und, und. Das widerstrebte meinem Freiheitsdrang erheblich. Nun kam also nur die Fahrt von Gerolstein nach Trier in Frage, und zwar täglich. Die Fahrkarte war für mich frei. Das Schulgeld kostete im ersten Jahr monatlich RM 18,- im zweiten RM 21,-, Geld genug für ein Mädchen. Und der Bummelzug fuhr morgens um 5.17 Uhr, eine schrecklich frühe Zeit. Es waren 72 Kilometer nach Trier, 11 Tunnels und 13 Stationen.

Eine Zeitlang haben wir den Schaffner, der immer mitfahren mußte, bei der Station Auw verärgert, indem wir schon vorher schrieen: Auw, Auw, Auw! Da das »W« nicht mitgeschrien werden konnte, war das ein Spaß, den wir uns selten entgehen ließen. Aber es gab auch Aktivitäten, die uns bei der Station St. Thomas, Ort und Kloster, reizten. Wie wir Biester meinten, waren dort »gefallene« Priester kaserniert, was immer das bedeuten mochte. Wir wußten auf jeden Fall, daß da die Mönchlein verwahrt wurden, die man nicht auf die Gläubigen loslassen wollte. Also gingen wir Mädchen zu den Fenstern und winkten jeden Morgen mit Kußhändchen und lauten Grüßen ins »Gefängnis« hinein. Die Mönchlein warteten schon um sechs Uhr auf die Vorbeifahrt des Zuges und winkten zaghaft zurück. Die armen Mönche. Von den Aufsehern waren die Fenster nicht einzusehen.

In Kordel stieg mein Freund Armand ein, den ich wegen seines französischen Namens besonders gern mochte. Aber nur zwei Stationen konnte ich mich an ihm erfreuen, dann waren wir schon in Trier. Wir hatten Zeit genug, durch die Stadt bis zur Dietrichstraße zu schlendern, in der unsere Schule war. Klar, wir haben auch die Schule geschwänzt. Einmal nahm uns der Direktor ins Gebet, wo wir so lange gewesen seien. Wir waren auf der Kirmes. Ich habe gezählt, wir sind 23mal Riesenrad gefahren, mir ward elendig schlecht, ich mußte mich übergeben.

Mittags ging ein Eilzug. Die Fahrzeit betrug nur etwa 80 Minuten, also ein Klacks gegen den Morgen. Da war bei der Firma Romika in Hermeskeil ein - wie ich heute sagen würde -Jungmanager, der stieg in Trier zu und fuhr jeden Samstag nach Hause; nach Euskirchen. Also stürzten wir in sein Abteil, versuchten seine Aufmerksamkeit zu erringen, schmissen uns förmlich an ihn ran - aber Pustekuchen, er beachtete uns junges Gemüse nicht. Er zündete sich seine Pfeife an und entfaltete die Times. Wir waren noch mehr beeindruckt. Eines Tages bekam ich wegen dieses - nun sagen wir, Fants, ernsthaften Krach mit einer Mitschülerin aus Kyllburg. Ein Wort gab das andere, und ehe wir uns versahen, hatten wir uns richtig in den Haaren. Ich wußte, das schickt sich nicht, aber ließ erst los, als ich Büschel Haare mit daranklebender Kopfhaut in den Händen hatte.

Igitt, wie konnte ich nur!

Es gab auch damals Vandalen im Zug, das heißt Schüler, die mutwillig Sachen zerstörten. In diesem Falle waren es Jungen, die wegen höherer Klassen zum Gymnasium nach Prüm fahren mußten. Eines Tages hatten sie einen Waggon des Zuges total zerstört; sämtliche Lederriemen, mit denen die Fenster hochgezogen wurden, abgeschnitten, die Lampen zerschlagen, Hölzer aus der Wand gerissen, alle Haken abmontiert. Es gab eine große Erhebung, um die Schädiger haftpflichtig zu machen. Wie auch heute üblich, wurde damals alles unter den Teppich gekehrt, weil der Sohn des Bahnhofvorstehers mit dabei war.

Da fuhr doch oft so ein kleines Männchen mit, Pfeife, Gamaschenstiefel (mit Kuhdreck dran), wir nannten es »Bäuerlein«. Besagtes Bäuerlein hielt sich unauffällig. Eines Tages hatte sich ein Mitschüler eine besondere Mutprobe ausgedacht. Er kletterte von seinem Abteil außen an den Haltestangen am Zug entlang und kam in unser Abteil. Eine waghalsige Sache, denn die Tunnels waren kaum so breit wie eine Tür. Und unverputzt. Geschafft, er war bei uns drin. Aber an der nächsten Station stieg das Bäuerlein wutschnaubend bei uns ein und nahm - wir erstarrten vor Schreck - dem Schüler die Fahrkarte ab. Das Bäuerlein war ein amtlich eingesetzter Kontrolleur. Damit hatten wir nicht gerechnet! Das gab ein böses Nachspiel, die Eltern des Schülers waren keineswegs gut betucht und mußten eine neue Fahrkarte bezahlen; ein Vermögen für die damalige Zeit.

Bleibt zu bemerken, daß Hausaufgaben grundsätzlich morgens auf dem Perron in Trier oder im Zug gemacht wurden. Der Ernst des Lebens hat uns schnell erreicht. Ich habe mal versucht, die Kilometerzahl zusammenzurechnen, die ich in jenen Jahren mit der Eisenbahn gefahren bin. Wievielmal um die Welt? Ich weiß es nicht. Ganz tief in meinem Hinterkopf höre ich oft den Rhythmus der Räder - tocktock, tocktock, tocktock...