Eine vergessene Theorie

Wilma Herzog, Gerolstein

 

Man braucht ihn jetzt nicht mehr darauf anzusprechen. Heute ist mein Bruder ein gestandener Mann, seine alte Lochtheorie hat er längst vergessen. Als er sie entwickelte, waren andere Zeiten. Seine Methoden waren für ihn praktisch und zeitangepaßt. So vergaß er nie die paar Tropfen Benzin auf sein Taschentuch zu träufeln, ehe er es in die Jackentasche steckte, um auf seinem Fahrrad, Marke »Vaterland«, zu den Kirmestänzen in der Umgebung zu fahren. Ein kleines Fläschchen Benzin reichte völlig aus, ihm die Chancen bei Mädchen um ein Vielfaches zu vermehren. Der dezente Duft d'Sprit erweckte bei ihnen den Eindruck, draußen stünde, anstelle eines Drahtesels, ein Auto, um sie komfortabel nach dem Tanz heimzufahren. Viele Mädchen brachte er heim, aber zu Fuß. Er war nicht nur der Erfinder, sondern auch der strengste Verfechter seiner Lochtheorie. Sie fußte auf dem Fuße, besser gesagt, auf dem sie bekleidenden Ringelsöckchen. In jener Kreppsohlenzeit äußerst modisch. Niemand durfte ihm ein Strumpfloch stopfen. Er erläuterte das unserer Mutter und mir so: Sieht jemand das Loch, hält er es für gerade entstanden. Fazit: Mein Bruder wollte nicht als jemand gelten, der Geflicktes trug.

Die Praxis seiner Taktik verfeinerte alsbald die Theorie: Wird ein junger Mann mit einem Sockenloch gesehen, wird er sofort als Junggeselle erkannt, was wiederum die weibliche Hilfsbereitschaft auf den Plan ruft. Daraus entwickelt sich das erhoffte Angebot. Es konnte lauten: »Darf ich Sie auf ein kleines Loch in Ihrem Söckchen aufmerksam machen, ich habe daheim zufällig den passenden Twist, damit könnte man das Malheurchen doch schnell beheben.« Kam dies aus dem Munde einer ihm angenehmen Erscheinung, willigte er ein, obwohl die Reparatur diesem Paar Ringelsöckchen den Todesstoß versetzte; gestopft waren sie unbrauchbar für die weitere Verwendung. Ja, oft genug gab es zu dem passenden Stopfgarn noch eine Tasse echten Bohnenkaffee und andere nicht zu verachtende Annehmlichkeiten. Danach tat er die Ursache seines Genusses wohl sicher noch mit einem Seufzer der Erinnerung in den Lumpensack.

Heute kleidet mein Bruder sich edel und achtet als Vater sehr darauf, daß seine beiden jungen Töchter modisch, aber dezent gekleidet gehen. Irgendwelchen auffälligen Schnickschnack läßt er nicht durchgehen. Man kann behaupten, er ist total verändert. Seine alte Lochtheorie ist tot.

Ist sie es wirklich? Ein wenig verändert lebt sie in der neuen Generation. Er ahnt allerdings nichts. Er darf es wegen seiner heutigen Einstellung auch nicht wissen, daß sich abends, vor dem Discobesuch, seine hübschen Töchter bei einer Freundin in diese modisch-durchlöcherten Jeans werfen, worin sie bis um Mitternacht tanzen.

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