Der Apfelbaum

Lotte Schabacker, Daun

 

Er wußte nicht, wie alt er war, der Apfelbaum. Er wußte nur, daß er schon viele Sommer und Winter erlebt hatte. Klirrende Kälte, brütende Hitze, Stürme und Gewitter. Auch Sonnenschein und sternhelle Nächte natürlich. 

In seiner Kindheit hatte er zunächst Wachstumsschwierigkeiten. Er war der Benjamin unter den neugepflanzten Obstbäumen in der Hocheifel, und die Wiese war schon besetzt. Aber den Menschen hatte es wohl leid getan, ihn einfach wegzuwerfen. So bekam er eine kleine Grube am Waldrand. Die Erdschicht war hier dünn, und weil ohnehin niemand recht an einen Erfolg glaubte, hatte man das darrunterliegende Gestein gelassen, wie es war. Aber der Kleine war zäh und wollte gern leben. Seine Wurzeln suchten so lange herum, bis sie Spalten im Stein fanden. Das hatte dann gleich zwei Vorteile: Er konnte sich fest verankern, und die Wühlmäuse hatten keine Chance, ihn von unten her aufzufressen.

Früher, vor langer Zeit, war es hier lustig gewesen, da hatte er ja Gesellschaft; Birn-, Kirsch-, Pflaumen- und Aprikosenbäume. Sie blühten um die Wette und zählten ihre Früchte, und der die meisten zustande brachte, war König. Im Frühjahr kamen Menschen, blickten zu den blühenden Baumkronen empor, und auf ihren Gesichtern lag ein Lächeln wie ein Sonnenstrahl. Im Herbst rückten sie an mit Leitern und Körben und sammelten die Früchte ein. Und viele von ihnen sangen dabei. Es war eine schöne Zeit.

Doch dann wurde alles anders. Ackerland sollte her. Dabei störten die Bäume. Sie mußten weg.

Ihn ließ man in Ruhe. Er stand etwas erhöht, da, wo die Wiese an den Berg grenzte und eh kein Pflug arbeiten konnte.

Unser Baum war traurig. Er fühlte sich einsam. Aber nicht lange. Apfelbäume haben ein heiteres Naturell und gewöhnen sich an alles. Genau wie Menschen mit solch sonniger Veranlagung. Zudem wurde ihm bewußt, daß seitlich von ihm und hinter ihm auch baumähnliche Gebilde herumstanden, große und kleine, die ebenfalls blühten und Früchte trugen: Schlehen, Holun-der, Ebereschen. Die waren wirklich nett, konnten ihm aber nicht das Wasser reichen. Und diese Riesenfichten, die den Berg besiedelten, verpulverten im Frühling braunen Staub, und im Herbst warfen sie mit schuppenartigen, harten Geschossen herum, die kein Mensch essen konnte.

Nun war er, der Apfelbaum, also jedes Jahr König! Auch Menschen mit Leitern und Körben kamen nach wie vor und pflückten seine Früchte. Und Kinder sammelten das Fallobst, bissen auch mal herzhaft hinein, daß es nur so krachte. Roh schmecken deine Äpfel den Großen nicht allzu gut, aber für Mus und Most sind sie köstlich, hatte ihm der Wind erzählt. Und wenn er nun auch alt und älter wurde, der Apfelbaum, er tat, was er konnte und freute sich seines Lebens.

Doch dann - dem Baum kam es vor wie »von jetzt auf gleich« - wurde alles anders. Die Menschen kamen nicht mehr mit ihren Leitern und Körben. Nur ein paar Kinder lasen noch ein bißchen Fallobst auf. Dann blieben auch die weg.

Die Menschen hier sind reich geworden, flüsterte ihm der Wind traurig zu. Sie kaufen jetzt Obst aus fernen Ländern, und Most holen sie sich flaschenweise aus den Supermärkten. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend ... Der Baum gab sich Mühe, noch prächtiger zu blühen, noch mehr Früchte zu tragen. Die Menschen sollten ihn bemerken und nicht vergessen. Ab und zu wanderten im Frühling auch mal Ausflügler den schmalen Pfad entlang, der an ihm vorbei auf den Berg führte. Und wenn er gerade blühte, zeigten sie mit dem Finger auf ihn und lächelten fröhlich. Aber im Herbst kamen sie nicht wieder.

Von Jahr zu Jahr wurde ihm nun die Last seiner Äpfel schwerer. So sehr er sich auch bemühte, sie festzuhalten, bis Menschen kamen, um sie zu pflücken - einen nach dem anderen mußte er fallenlassen. Und wenn dann ein Sturm kam, war er den Rest auch noch los. Da lagen sie dann im Kraut und niedrigem Gestrüpp und moderten vor sich hin.

Im letzten Spätherbst waren ihm nach einem Sturm noch drei Äpfel geblieben. Wie immer, wenn der Winter nahte, war die Kraft seiner Zweige schon erlahmt und er wußte, er würde seine letzten Kinder trotz aller Anstrengung nicht mehr lange festhalten können. Da sah er drei Buben herbeikommen und als sie gerade neben ihm waren, ließ er die Früchte fallen. Dreimal plumps! Da sie noch ein Stückchen den Hang hinabrollten, bemerkten die Jungen sie, holten sie sich und aßen sie auf, sozusagen mit Stumpf und Stiel. Dann blickten sie begehrlich zur Baumkrone hinauf. Aber da war nichts mehr. Jedoch entdeckten sie auf dem Boden, halb verdeckt vom Herbstlaub, noch eine Reihe brauchbarer, kaum Versehrter Früchte. »Mutter hat gesagt, Äpfel wären in diesem Jahr sehr teuer«, rief einer der Kleinen. So sammelten sie das Obst und legten alles auf einen Haufen. Was nun? In ihre Jeanstaschen paßte kaum eine Briefmarke. Da opferte ein Junge seine Jacke und breitete sie auf dem Weg aus. Die Kinder legten die Äpfel darauf und machten aus dem Ganzen ein Bündel. Dann zogen sie ab, die drei und sahen sich noch ein paarmal nach dem Baum um. Und sangen. Laut und falsch. Aber dem Baum klang es wie ein Liebeslied. Siehste, lachte der Wind, wie schnell sich die Zeiten ändern. Mach du nur weiter wie bisher. In den nächsten Jahren werden vielleicht nicht nur die Äpfel teurer sein ...