Heimat in der Natur

Etwas über Schimmel.

Wilma Herzog, Gerolstein

 

Schon Tage vorher freute ich mich auf den Besuch bei meinen Großeltern im Dorf. In der Nacht vor meinem langen Weg durch den Wald schlief ich sehr unruhig, denn es war etwas Besonderes für mich. Zu Hause war ich das älteste von drei Kindern, mit den Großeltern war ich allein und ganz bestimmte Dinge erwarteten mich jedesmal.

Erst das besondere Lob von Großmutter für mein Wildblumensträußchen von unterwegs. Dafür sprang ich gerne über den Straßengraben, um noch eine langstielige blaue Glockenblume zu pflücken oder ein paar Grasrispen, die meinen Sträußen ihre unverwechselbare Note gaben.

Immer saß mein Großvater am Küchenfenster, die Scheibengardine angehoben, um nach mir Ausschau zu halten, denn die Dorfstraße hatte sich vor dem Elternhaus meiner Mutter schnurgerade gelegt, nach all den Biegungen, die sie vorher um Kapelle und Kolonialladen ziehen mußte. Wie beruhigt und glücklich sah ich dann das wohlbekannte Elternhaus meiner Mutter endlich in erreichbarer Nähe.

Mein Großvater hatte es 1913 erbauen lassen, ein typisches Trierer Haus mit Stall und Scheune in einer Flucht, daneben die große Obstwiese, an der anderen Seite den Nutz- und Blumengarten. Das letzte Wegstück nahm ich im Laufschritt, meine Großmutter erwartete mich jedesmal an der Haustür, sie war in Sorge, die sieben Kilometer allein durch den Wald könnte ich nicht schaffen mit meinen knapp acht Jahren.

Aufs Lob für meinen Blumenstrauß folgte das Wassertrinken. Dazu stand immer der Glashumpen beim Becken bereit. Mir schmeckte das eisenhaltige Wasser besonders gut; so hatte für mich eben Wasser bei Großeltern zu schmecken. Auf diese gewohnte Reihenfolge konnte ich mich verlassen.

Mit Großvater ging es darauf in den Stall. Mal zeigte er mir die Schwalben beim Nestbau, mal gab es eine Schar munterer Küken oder ein neues Ferkelchen. Jedesmal begrüßte ich die Kühe, von denen mir Schimmel die liebste war. Sie hatte auch den ersten Platz im Stall und ihren Namen wegen ihrer hellen Farbe bekommen, denn sie war eine Glankuh.

Doch eines Tages war alles anders, als ich die Dorfstraße herunterkam. Keine Gardine war angehoben, keine Hand winkte, als ich mit meinem Sträußchen beklommen aufs Haus zuging. Großmutter stand an der Tür. Sie sah die Blumen nicht, die ich diesmal unterwegs im Bach extra eingetaucht hatte, damit sie sich frisch hielten. Wasser gabs auch nicht, obwohl ich nach dem staubigen Weg durstig war. An der Tür noch schickte mich Großmutter fort zu Onkel Antunn, der ein paar Häuser weiter seinen Bauernhof hatte. Er soll schnell mit dem Strick kommen, er wüßte Bescheid. Den Onkel fand ich im Stall. Er nahm einen dicken Strick vom Haken, legte ihn über seine Schulter und ging so schnell, daß ich kaum nachkam. Er ging zu Großvater in den Stall, mich schickte er in die Küche.

Nie zuvor hatte ich meine Großmutter so aufgeregt gesehen, sie ging hin und her und als Laute aus dem Stall kamen, sagte sie: »Oh, das arme Tier!« Dabei sah sie mich an, ohne mich überhaupt richtig wahrzunehmen. Etwas ganz Schlimmes mußte dort im Gange sein. Ich stellte keine Fragen. Ob man im Stall ein Tier schlachtet, es vielleicht erwürgt mit diesem Strick?

Ich saß steif auf der Holzbank hinter dem blankgescheuerten Tisch, sah den Glashumpen am Spülstein in der Sonne glänzen, noch immer war ich durstig. Wie kann jemand trinken wollen, wenn im Stall so Schreckliches passiert? Jetzt hörten wir Großvater kommen. Die Großmutter ging ihm entgegen und öffnete mit fragenden Augen die Tür. «Alles ist gut gegangen, ein Kuhkälbchen!«, sagte er. Großmutter atmete auf, und ich sah, wie sie sich freuten. Da merkte er, daß ich ganz ernst da saß. «Schimmel hat gekalbt«, sage er, «Komm, ich zeig dir das neue Kälbchen!«

»Wartet«, sagte Großmutter, ging zum Küchen-schrank, nahm das große, runde, selbstgebackene Brot und schnitt eine dicke Scheibe ab, die bestrich sie dick mit Schmalz. «Für Schimmel«, sagte sie und reichte sie mir. Wir gingen zum Stall. Schimmel stand im frischen Stroh, schmal und eingefallen in den Lenden, ihren Kopf drehte sie und schaute uns mit ihren großen, sanften Augen an. Ich tätschelte sie und gab ihr die Schnitte zu fressen. Großmutter strich Schimmel über den Rücken:

»Du bist eine prächtige Mutter, Schimmel«, sagte sie, »ein schönes Kälbchen hast du geboren.« Plötzlich gab die Kuh einen fremden Laut von sich, ein ganz tiefes, langes, sehnsüchtiges Muhen und schaute dabei zum Kälberstall, wo Onkel Antunn gerade ihr nasses Tierkind mit einem Tuch trockenrieb. Das Kleine antwortete seiner Mutter genau so innig. Immer wieder erschreckte ich innerlich über Schimmeis neue Stimme, wenn sie tief und zärtlich muhte und ihr das Kälbchen antwortete.

Ich war noch Kind, und die Welt war voller Wunder für mich. Aber ich wußte, daß ich an diesem Tage Zeugin von etwas ganz besonders Schönem geworden war. Ich hörte zum ersten Male die ganz eigene Sprache, die Tiermütter und ihre Kinder sprechen.