Auf den Spuren der Kindheit

Theo Pauly, Gerolstein

 

Da hat die Leiterin des Eisenmuseums in Jünkerath im Sommer 92 eine Gruppe von Leuten eingeladen, von denen sie glaubt, daß diese an volkskundlichen Dingen ihrer Heimat interessiert sind. Obwohl selbst nicht aus der Eitel stammend, ist sie der Meinung, daß gerade der hiesige Raum in volkskundlicher Hinsicht reichlich brachliegt, vor allem, was die Dokumentation von Sitten und Bräuchen angeht. Da hat sie recht, und eine stattliche Anzahl Angesprochener folgt ihrer Einladung. Natürlich bekommt sie hierbei Unterstützung durch die Kreisverwaltung, insbesondere durch die Abteilung »Schulen und Kultur«. Darüber hinaus steht das Ganze unter dem Protektorat des »Amtes für Rheinische Landeskunde«. Damit die erste Begegnung volkskundlich Interessierter sich nicht ausschließlich in theoretischen Erörterungen ergeht, hat der Leiter des Amtes für Rheinische Landeskunde, Dr. Fritz Langensiepen, gleich eine konkrete Aufgabe mitgebracht: Man ist daran interessiert, im Gebiet der ehemaligen Rheinprovinz unter dem Thema »Spielwelten der Kinder im Rheinland« Kinderspiele und -spielstätten aufzulisten aus dem Zeitraum etwa seit der Jahrhundertwende bis heute.

Augenblicklich steigen Erinnerungen hoch; man blickt plötzlich in leuchtende, verträumte Augen ringsum und spürt förmlich, wie sich in jedem einzelnen etwas bewegt. Unsichtbar im Raum steht die Frage und Aufforderung: »Weißt du noch?« Und da ist es nicht verwunderlich, daß sich diese lose und lockere Begegnung von selbst zu einer Interessengemeinschaft wandelt mit dem Ergebnis, daß sich an Ort und Stelle eine «Volkskundliche Arbeitsgemeinschaft des Kreises Daun« gründet. Es ist auch schnell jemand gefunden, der dieser AG vorsteht, die Initiatorin dieser Begegnung.

Erste Aufgabe der AG-Mitglieder soll also sein, Kinderspiele aufzulisten, die man einst selbst gespielt hat, die die eigenen Kinder spielten und vielleicht Enkelkinder heute noch spielen; wo gespielt wurde und wird und zu welchen Gelegenheiten. Das Amt für Rheinische Landeskunde stellt einen Leitfaden zur Verfügung, nach dem vorgegangen werden soll, und damit, sowie mit Elan und Vorfreude gewappnet, begeben sich die Teilnehmer in heimische Gefilde.

Doch da fängt es an, schwierig zu werden; zumindest ergeht es mir so. Ich erwische mich dabei, wie ich jedes Spiel, an das ich mich erinnere, zwar aufnotiere, gleichzeitig aber auch dabei bin, es zu beschreiben. Das ist aber doch gar nicht gewollt! Also zwinge ich mich, dies zu unterlassen. Es fällt schwer!

Das zweite Problem stellt sich mir: Kann ich mich wirklich noch an alle Spiele meiner Kindheit erinnern, zumindest an die häufigsten und wichtigsten? Eine ganze Menge habe ich schon vermerkt, doch ist meine Liste auch nur annähernd vollständig?

Da denke ich an meine heimatlichen Freunde, und greife zum Telefon. Freund Pit meldet sich. Ich trage mein Anliegen vor und spüre über die räumliche Entfernung hinweg, wie auch ihn dieses Thema fasziniert. Wir überlegen gemeinsam, wen im Dorf wir noch angehen können, um eine möglichst vollständige Liste der Spiele zustande zu bekommen, die wir als Kinder gespielt haben; wichtig erscheint uns, auch einige der ältesten Einwohner mit einzubeziehen. Unsere Personenliste steht. Dann meint Pit: »Es wäre ja wohl am sinnvollsten, wir würden uns treffen und gemeinsam überlegen.« So finden wir uns an einem der nächsten Abende zusammen, schwelgen in Erinnerungen und staunen, daß im Grunde in unserer Heimat, der Struth, über drei Generationen hinweg, seit der Jahrhundertwende bis in die sechziger Jahre, stets die gleichen Kinderspiele gespielt wurden, abgesehen von einigen wenigen, die nur noch den Älteren bekannt sind. Die Anzahl der aufgelisteten Spiele ist stattlich.

Dann findet das zweite AG-Treffen statt, bei dem konkret überlegt wird, wie eine Wanderausstellung unter dem Thema »Spielwelten der Kinder im Rheinland« realisiert werden kann. Frau Dr. Fadel, die Vertreterin des Amtes für Rheinische Landeskunde, sucht hierfür Fotos von Spielsituationen und Spielzeug. Mit Fotos können die wenigsten dienen. Auch altes Spielzeug ist kaum noch vorhanden. Das ist auch nicht verwunderlich, hat es doch seinerzeit die Eifel auf und ab stets an Bargeld gemangelt, und wer wäre da so frivol gewesen, von dem Wenigen Spielzeug für seine Kinder zu kaufen. So blieb den Kindern der Eifel nichts anderes übrig, als sich selbst welches herzustellen, wenn sie denn spielen wollten. Und ob sie das wollten! Siehe da, sie erwiesen sich auch bei der Spielzeugherstellung als »sinnreiche« Köpfe. So kommt der Gedanke auf, Spielzeug aus der Erinnerung nachzufertigen. Das dürfte im Grunde nicht allzu schwer sein, denn alle Ressourcen, aus denen seinerzeit das Spielzeug bestand, gibt es auch heute noch. Mit überkommenem Geschick und einigem Erinnerungsvermögen sollte die Herstellung noch möglich sein.

Ich wende mich wieder an meine Altersgenossen und stoße offene Türen ein. Mit Begeisterung gibt man sich ans Werk. Nun ja, meine Freunde befinden sich mittlerweile im verdienten Ruhestand, und wenn sie auch alle zu den »richtigen« Rentnern zählen, die einen übervollen Terminkalender vorzuweisen haben, so bleibt doch offensichtlich jede andere »dringende« Arbeit liegen, und es wird Spielzeug hergestellt. Freund Pit verfügt seit eh und je über eine hervorragend ausgestattete Hobby-Werkstatt, und in ihr, aber auch zu Hause in Küche, Stube und Keller wird gewerkelt und gebastelt, was das Zeug hält. Wiesen und Wälder werden durchstreift, um Materialien zu finden, aus denen man seinerzeit das Spielzeug herstellte.

Und man wird wieder jung, ist der kleine Junge, der durch die Flur streift, sieht die Natur nicht mehr mit den kritischen und wissenden Augen des Erwachsenen, des Alten, sondern mit denen des Kindes; es wird ganz warm ums Herz. Ab und an stoßen wir auf Schwierigkeiten: Wo sind die Wacholdersträucher und -hecken, die damals auf Schritt und Tritt anzutreffen waren, zumindest auf den Heideflächen am Langenberg und auf der Lichtstruth, so daß man sie seinerzeit schlug, um sie als Fußabtreter vor der Haustür zu verwenden, oder gar ganze Gartenzäune damit zu errichten, deren Rinde man jetzt nötig braucht, um zu dokumentieren, wie man sie als Kind, mit den Daumenballen in der Handfläche gerieben, als »Tabak« in der aus Kiefernrinde geschnitzten Pfeife, oder in Zeitungspapier zur Zigarette gedreht, geraucht hat? Nirgendwo mehr anzutreffen! Wir setzen uns ins Auto und fahren zum Wacholdergebiet nach Niederehe; dort finden wir sie. Und es berührt nicht, daß da ein Niedereher Bauer große Augen macht, als er zwei erwachsene Männer dabei beobachtet, wie sie Wacholderrinde abschälen und ihre Jackentaschen damit füllen, so wie sie es als kleine Jungen getan hatten.

Wenige Tage nach dem Telefonat mit Freund Pit bin ich mal wieder zu Besuch in der Struth, und kaum habe ich das Haus meines Bruders betreten, klingelt dort das Telefon. Pit bittet mich, ihn in seiner Werkstatt aufzusuchen und zu schauen, was alles an Spielzeug schon zum Abholen bereitliege. Gern komme ich seinem Wunsch nach und freue mich nicht zuletzt auf den Plausch mit dem Freund. Da werden mir die Zwille, bei uns »Flitsch« genannt, vorgeführt, der Flitzebogen, die »Tabakspfeife« aus Kiefernrinde und dem Mundstück aus Ebereschenholz, zwei Schiffchen aus Kiefernrinde, die Knallbüchse und die Wasserspritze aus Holunderholz, die Steinschleuder, die Dilldoppe aus den Enden von Zwirnröllchen (da solche heute nicht mehr im Handel erhältlich sind, hat Pit kurzerhand welche auf seiner Drehbank geschnitzt), die Flöte aus Speckstein, die »Katzenstühlchen« aus Binsen geflochten und etliches andere. Da kommt Freund Jupp dazu; er hatte mich an seinem Hause vorbeigehen sehen und erzählt, daß er einige Tage in seinem Geburtsort Gefell verbracht hat, um bei Freunden Hilfestellung und Bestätigung zu finden, damit auch alles »fachgerecht« ermittelt und hergestellt werden konnte. Er will noch die »Rollnuß« fertigen, Kobbes ein Wasserrad und Pit eine Wolfsmühle. Pit führt uns ein selbstgebautes Exemplar vor, das weit mehr als hundert Jahre alt ist und dem man das Alter und den häufigen Gebrauch auch ansieht; er möchte dies nicht gern aus der Hand geben, was ich gut verstehe. Beide, Jupp und Pit, versichern mir, daß sie im Frühjahr, wenn in der Natur die Säfte wieder steigen, noch Weidenflöten und »Höppen« (Schalmeien) nachliefern wollen. Steff hat ein Ding gebastelt, das man nicht unbedingt als Spielzeug bezeichnen kann, und doch hat es häufig als solches gedient, auch wenn ich selbst so etwas noch nie zu Gesicht bekommen hatte: es ist ein »Ringelstab«. Er war nützliches Werkzeug beim Kühehüten. Am unteren Ende eines recht derben Stabes sind Eisenringe befestigt. Wirft man nun so einen Stab, behält er durch das Gewicht der Eisenringe die gewollte Richtung bei. Diesen Ringelstab benutzte der »Küert«, der Kuhhirte, um seine Kühe in der Richtung zu halten oder in den Grenzen der eigenen Wiese. Geriet ein Stück Vieh auf Abwege, warf der Hirte diesen Stab nach ihm, und wenn er traf, bereitete dies dem Tier arge Schmerzen, so daß der Hirte künftig nur noch mit seinem Ringelstab zu rasseln brauchte, und jede Kuh wußte, wie sie sich zu benehmen hatte. Wichtig war natürlich das Treffen, und jeder »Küert«, und das waren in der Hauptsache Kinder, übte sich im zielsicheren Werfen des Ringelstabes. Da er aus Erfahrung wußte, was Schmerzen bedeuten, übte er nicht am Vieh, sondern an Bäumen, Hecken oder Maulwurfshügeln; jedenfalls übte er sich im »Treffen«, und so kann man wohl diesen »Ringelstab« letztendlich auch als »Spielzeug« durchgehen lassen.

Jupp hat anläßlich eines Besuches bei seinem Schwager in Mannebach auf einem Spaziergang echte Krüppelkiefern der Eifel angetroffen und ausreichend Kiefernrinde mitgebracht, aus denen die »Tabakspfeife« und die »Schiffchen« hergestellt worden waren. Ich bin begeistert, und als ich im Oktober die gefertigten Spielzeuge abhole, um sie für die Ausstellung abzuliefern, sind es einundzwanzig Stück. Meine Mitbringsel rufen bei unserem dritten AG-Treff anhaltenden Beifall hervor, den ich gern an meine Freunde weiterleite. Sie fühlen sich bestätigt, doch die größte Freude ist, daß man ganz »offiziell« mal wieder auf den Spuren der Kindheit wandeln durfte. Aber wir sind uns auch bewußt, an einer gar nicht so unwichtigen Aufgabe mitgearbeitet zu haben. Freund Pit drückt es so aus: »Es ist nötig, daß so etwas für die Nachwelt festgehalten wird, und wenn wir es jetzt nicht machen, wer soll es später noch tun können?!«