Der Schneider von Müllenborn

Wilma Herzog, Gerolstein

Er war ein Meister seines Fachs, der Müllenborner Schneider, obwohl er selten Gelegenheit hatte, seine Kunst an einem Stück neuen Tuchs zu beweisen. Meist verdiente er seinen kargen Lebensunterhalt mit Änderung und Ausflicken. Mit flinker Nadel versorgte er die schadhaften Kleider und mit lustigen Geschichten unterhielt er derweil seine wartende Kundschaft. Denn er hatte ausreichend Beweise dafür beisammen, dass gutgelaunt, die Leute ihm den abgemachten Lohn zusätzlich aufrundeten. So war der Schneider auch noch Meister der Lebenskunst geworden, die hartgeprüften Menschen hilft, weil sie den Blick für das Schöne und Gute in der Welt nicht verloren hatten.

Das Allerschönste für den Schneider war und blieb seine Geige, denn das Süßeste, was jemals so nah und zärtlich sein Ohr vernommen hatte, war ihre wundersame Stimme. Sobald der Nählohn in seinen Geldbeutel hineingezählt und ihm damit das Brot für die nächsten Tage sicher war, nahm er sie aus dem abgegriffenen Kasten, und die Nachbarn hörten bald die frohen Töne, die er ihr entlockte. »Er hat wieder genug Geld im Sack!« sagten sie zueinander, eine kleine Spur neidisch, wenn der Schneider, wie heute wieder, mitten am Tag die Haustür hinter sich zumachte und ein munteres Lied pfeifend, die Geige unterm Arm, vorbei spazierte. Hätten sie aber gewusst, was dem armen Kerl diesmal bevorstand, wären sie voll des Bedauerns gewesen.

Er ging indes frohgemut dem Walde zu, genoss das Glück über den eben erhaltenen Auftrag, dem Rother Pastor aus allerfeinstem Tuch einen nagelneuen Talar zu schneidern. Dankbar darüber legte er das Instrument ans Kinn und jubelte seine Freude hinaus ins vielschimmernde Grün, durchs dunkle Fichtengezweig bis hinauf zu den buntgetönten Eichenlaubdächern, unter denen er ging, dass er bald Brandholz und Habermehl, Brot und Speck für das noch verbleibende Restchen Herbst und den gesamten langen Winter haben werde. So ging er zwischen den Bäumen und lachte mit der Stimme der Geige die Tonleiter rauf und -plötzlich fällt er ins tiefe Loch, das die Müllenborner dem Wolf frisch gegraben und sorgfältig mit Zweigen bedeckt hatten. Er liegt unten in der Grube, hinter ihm knackt es. Zwei stechende Augen starren ihn an! Der Wolf! Ihm warf der Zufall diese Mahlzeit so ganz einfach vor die Füße. Darauf will sich das ausgehungerte Tier gleich stürzen. Blitzschnell hebt der Bedrohte die Geige, setzt sie instinktiv ans Kinn, und zieht den Bogen - Äug in Äug mit dem Wolf - der beim ersten Ton verharrt, auch noch beim zweiten und dann beim dritten ... ebenfalls. Musik hält ihn zurück, merkt der Schneider und kratzt in Panik über die Geige, dass sie nur so jammert und wimmert. Er will um Hilfe rufen, doch die Angst macht ihn stumm. Ihm bleibt nur die Stimme seiner Geige. Lässt er einen Ton fort, duckt sich das Tier wie zum Sprung, mit hechelndem Maul. Der Schneider weiß, er spielt um sein Leben. Da! Die Saite! Sie reißt! Er spielt die anderen. »Sie müssen mich doch hören! Warum kommt niemand? O Gott! Die Grube schluckt den Schall!« Die zweite Saite reißt! In Todesangst jagt er den Bogen über die anderen, dass die Geige schrillhell schreit.

Jetzt horchen die Leute im Dort einen Moment auf, als sie das Geheul vernehmen. Das kann doch nicht der Schneider sein, sagen sie sich, der spielt doch meisterlich sein Instrument, und sie wenden sich wieder ihrer Arbeit zu. Aber wenn er's doch wäre, dann stimmt etwas nicht. "Die Wolfskaul!« ruft einer. Sie laufen zum Wald. »Mein Gott, wenn er ins Wolfsloch gefallen ist!« Die ersten sind schon an der Grube und sehen ihn unten in Todesangst vor dem Wolf auf der letzten Saite fiedelnd. Mit Stangen hallen die einen das Tier zurück, während die ändern den Schneider, der seine Geige immer noch fest an sich presst, aus der Wolfsgrube ziehen.

 

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