Alles relativ

A. von Irscn

Kürzlich musste ich wegen einer Operation in ein Krankenhaus. Ich tat mir furchtbar leid. All die Spritzen, Verbände und Untersuchungen; der Tropf, die Angst und die Kälte im Operationssaal, die Narkose, die beißende Naht, die langen, einsamen Nächte. Ich stand vor dem Spiegel und sah mich in ihm. Fremd kam ich mir vor, abgemagert und bleicher als sonst, Schatten unter den Augen. Wie ich mich so sah, und wie gerade die Narbe sich deutlich spürbar machte, wurden meine Augen feucht und still schüttelte ich den Kopf: »Mein Gott, und das gerade mir. Ich hab1 das Pech auch all!"

Mit einem dicken Kloß im Hals ging ich, um mich abzulenken, hinaus auf den Flur, hinab in den Aufenthaltsraum. Kaffeedunst und Zigarettenrauch, Tellergeklirr und Kassengeklapper. Am Nebentisch saß ein älteres Ehepaar. Mit leiser Stimme sagte er zu ihr: »Es ist bösartig, meinte der Oberarzt, aber mit etwas Glück hätte ich doch noch Monate!« Ihr Blick war wässrig. Eine Träne verlor sich in ihrem welken Gesicht. Doch sie lächelte und streichelte ihm über die runzlige Hand. Die Tür wurde aufgestoßen von einem Rollstuhl. In ihm eine Frau, hübsch und so jung. Während sie Kaffee bestellte, tuschelte es im Hintergrund:

»Guck mal, die Schwarze da im Rollstuhl. Armes Ding! Autounfall! Beide Beine unterhalb der Knie mussten abgenommen werden!« Und während ich noch auf die rot-weiß karierte Decke starrte, mit der die ]unge Frau ihre Stümpfe bedeckte, hörte ich sie hellauf lachen. Sicherlich hatte die Bedienung ihr einen Scherz erzählt. Doch mich lenkte da eine weiche Stimme ab, zog meine Aufmerksamkeit auf sich: »Komm, ich füttere dich!« Und eine Frau mit schütterblondem Haar führte Gabel nach Gabel in den zitternden Mund ihres Mannes, gab ihm zu trinken, wischte ihm das Gesicht ab. Sie bemerkte meinen erstaunten und fragenden Blick und gab mir die Erklärung: "Er ist mit seiner Hand in die Kreissäge gekommen, hat alle Finger verloren. Aber die Ärzte haben ihm zwei Zehen transplantiert. In ein paar Monaten kann er vielleicht wieder greifen!" Dankbar lächelte der Mann sie an und winkte mir freundlich mit dem eingegipsten Arm zu. Mir fiel das Schlucken schwer. Der Kloß im Hals wollte nicht weichen. Ich ging wieder zurück zu meinem Zimmer. Dabei kam ich an der Krankenhauskapelle vorbei. Dämmrig dunkel war es in ihr. Wenige Kerzen brannten und erfüllten mit ihrem schweren Duft den Raum. Nur ein schwacher Deckenstrahler beleuchtete eine Stelle an der Ziegelwand und genau dort im Lichtkreis hing ER. Nägel in Händen und Fußen, geronnenes Blut an der Seite, Glieder und Gelenke im Todesschmerz verrenkt. Da wurde mein Blick klarer, so, als ob die Lichtstrahlen das Trübe meiner Augen erhellten. Und als ich wieder in meinem Zimmer stand und mich im Spiegel sah, schluckte ich. Das Kloßgefühl schien zu weichen und still schüttelte ich den Kopf: "Mein Gott, und nur das Wenige mir! Ich habe das Glück auch all!«