Klein und fein

Niederkyll, St. Hubertus

Elke Lehmann-Brauns, Bonn

Ehe der Flecken Stadtkyll in der Herrschaft der Grafen von Manderscheid-Blankenheim und Gerolstein Marktrechte erhielt und zur Stadt mit Befestigungsmauer und einer eigenen Pfarrkirche aufblühte (1508), soll sein kirchlicher Mittelpunkt außerhalb, in Niederkyll, gelegen haben. Dort, ein Stück flussabwärts und von der kleinen Stadt durch saftige Viehweiden des Kylltals getrennt, haben sich die mittelalterlichen Strukturen bis heute bewahrt. Denn Niederkyll ist ein Flecken geblieben, gehört immer noch zur Erzdiözese Köln, jedoch nicht mehr zum späteren Landkreis Prüm. Daun ist seit kurzem der neue Bezugspunkt. Die acht

Hl. Elisabeth, Konsolfigur des 16. Jahrhunderts

Häuser schmiegen sich in lockerem Kreis an den Kockelsberg. Und den Gehöften vorgelagert, emporgehoben wie auf einem Schild, steht auf einem Felsvorsprung über der brausenden Kyll die kleine Hubertus-Kirche. Sie besetzt den schönsten Platz von Niederkyll und wirkt mit ihrem niedrigen Turm bescheiden und urtümlich zugleich. Der Bau stammt von 1600 und verbindet alte Formen - einen quadratischen Chor, flache Balkendecke im Langhaus und massige Mauern - mit der beliebten spätgotischen Einstützenkirche. Zeugnisse über einen Vorgängerbau aus der Zeit, als hier noch die Mutterkirche gestanden haben soll, die für gleich kleine Ansiedlungen der Gegend, wie seinerzeit noch Stadtkyll, zuständig war, gibt es nicht mehr. Doch die Chronisten berufen sich auf eine Fronleichnamsprozession, die 1709 beschrieben ist. Sie ging von Stadtkyll aus, und nach der zweiten Station zog man nach Niederkyll, wo nach altem Brauch »das hohe Ambt und Predigt« gehalten wurden. Eine Prozession zur Mutterkirche, bei der das Allerheiligste mitgeführt wurde, und auch die daraus hervorgegangene Fronleichnamsprozession bedeuteten ihre symbolische Anerkennung. Die Fortführung dieser Prozession, auch nach dem Wechsel des Abhängigkeitsverhältnisses - Stadtkyll wurde Pfarrsitz, Niederkyll Filiale -soll anzeigen, dass St. Hubertus die ursprüngliche Mutterkirche war.

Hinter der Kirche liegt ein kleiner Friedhof, den Linden umsäumen. Bei Untersuchungen um die Jahrhundertwende fand man viele alte Gräber, ein Umstand, der den einstmaligen Rang von St. Hubertus als Pfarrkirche bekräftigen kann. Denn nur sie hatte das Recht zu beerdigen, zu taufen und den Zehnten einzuziehen. Allerdings konnte das Beerdigungsprivileg ausnahmsweise und gegen symbolische Bezahlung auch einer Tochterkirche gewährt werden. Wann genau St. Hubertus seinen Status als Mutterkirche an Stadtkyll abgeben musste, weiß man nicht. Sicher ist, dass St. Joseph im Jahr 1508 Pfarrkirche und St. Hubertus ihre Filiale war, die die Toten weiterhin auf dem eigenen Friedhof beisetzen durfte.

Ein bisschen Ehrfurcht

Als Katharina Königs im Alter von 20 Jahren 1972 in den alten und größten Hof gleich hinter dem Friedhof einheiratete, war ihr der Blick aus den Fenstern auf die Gräber erschreckend und unheimlich. Alle drei Schwiegertöchter der Königs, liest man auf den Grabsteinen, hießen Katharina. »Inzwischen habe ich mich gewöhnt, ich lebe mit den Toten", erzählt sie. Katharina Königs ist Hauswirtschafterin, stammt aus Kronenburg, lernte ihren Mann auf der Kirmes in Stadtkyll kennen, hat mit ihm drei Kinder und hilft bei der Rinderzucht mit 150 Tieren. Von ihrer Schwiegermutter übernahm sie das Amt der Küsterin. In dem kleinen Niederkyll mit dreißig Einwohnern fühlt sie sich so wohl, dass sie »mit keinem tauschen würde. Die Annehmlichkeiten der Stadt können die Ruhe und den Zusammenhalt im Dorf nicht aufwiegen«. Als Küsterin wäscht sie zweimal im Jahr die Altardecken und nach jeder Messe, die einmal im Monat gefeiert wird, die Kelchtücher. Sie schmückt die Kirche mit Blumen und verwahrt in ihrem Haus Kelch, Monstranz und liturgische Gewänder. Das Glockenläuten übernimmt meist ihr Mann, und einmal im Jahr, am Festtag des Kirchpatrons, des hl. Hubertus, am 3. November, bewirtet Katharina Königs den Pfarrer und den Küster aus Stadtkyll nach der Messe mit Kaffee und Kuchen. Das ist eine jahrhundertelange Tradition, die früher, wie es 1709 heißt, allerdings schon zur Mittagszeit gepflegt wurde, wo nach dem »Hohen Ambt samt der Predigt.. . der Herr Pastor samt dem Küster das Mittagsmahl bei den Pfarrkindern zu Niederkyll nimmt un! von Jahr zu Jahr von einem auf den anderen devolvirt (abwechselt).. .« Der hl. Hubertus, nach der Legende Prinz aus Aqurtanien (s. Wolfsfeld), wurde vom Adel besonders verehrt, der ihm viele Kirchen errichten ließ. In Niederkyll, dem dichtbewaldete Höhenrücken gegenüberliegen, steht sein Jägerpatronat ganz im Vordergrund, während Hubertus in Wolfsfeld von weitgereisten Pilgern auch zum Schutz gegen Tollwut angefleht wurde (s. Wolfsfeld). Das Hubertusfest ist in Niederkyll das größte Fest des Jahres. Dann versuchen alle weggezogenen Verwandten zu kommen, so dass sich hundert Messebesucher in die Kirche drängen. Der Pfarrer segnet nach altem Brauch Brot (Rosinenwecken), Salz und Wasser, wovon sich jeder Teilnehmer etwas mit nach Hause nimmt zum Verzehr. Wenn, wie letztes Mal. ein Eimer Wasser übrigbleibt, fragt die Küsterin in jedem Haus nach Bedarf, ehe sie davon etwas in die Weihwasserkännchen auf den Gräbern gießt. Bleibt immer noch ein Rest, dann schüttet sie ihn in die Tränke ihrer Kühe: "Ich glaube eher, dass es was bringt, als dass es nichts bringt. Ein bisschen Ehrfurcht vor Weihwasser haben wir schon. Ich erinnere mich noch, wie meine Großmutter am Brigittafest jeder Kuh ein Stück geweihtes, mit Weihwasser beträufeltes Brat ins Maui legte.« Schon am frühen Abend, aber mit Blasmusik, geht das Niederkyller Fest zu Ende.

Jupiter ohne Bart?

Wer heute nach Niederkyll von der Dauner Straße herkommt, muss erst durch die Stapelberge geschwärzter Kiefernstämme eines Sägewerkes hindurch, ehe er die malerisch gelegene Kirche von der Kyllbrücke aus erblicken kann. Schlehenbüsche bewachsen den Bergspom, das Podest. Der Sage nach soll an ihrer Stelle einstmals eine römische Opferstätte gestanden haben, die Soldaten von der vorbeiführenden Heerstraße aus besuchten, urn dem Kriegsgott Mars ein Opfer zu bringen. Man fand in der Nähe der Kirche römische Mauerreste und Münzen, und im Chorgiebel ist eine römische Büste vermauert. Doch gesicherte Erkenntnisse, die hier eine Marsopferstätte bewiesen, gibt es nicht. Die vermauerte Büste, die der vorletzte Pfarrer nicht leiden konnte und darum mit der Wand weiß verputzen ließ, ist aus Kieseischiefer und stellt einen kurzhaarigen, glattrasierten Mann dar, über dessen linke Schulter ein Mantelwurf fällt. Nach Wackenroder handelt es sich um den Rest eines römischen Grabsteins. Die Deutung von Heimatforschern, die in der Büste Jupiter oder Mars sehen, widerlegt Gerhard Bauchhenss vom Rheinischen Landesmuseum in Bonn, da Jupiter immer mit Vollbart dargestellt worden sei, und Mars trage entweder einen Helm oder eine Rüstung. Es gehörte durchaus in den vom Humanismus geprägten Zeitgeschmack, Reste römischer Kultsteine oder Figuren als Schmuck an

St. Hubertus über der Kyll

einer Kirche anzubringen (s. Polch). Kölner Domherren hatten am Ende des 16. Jahrhunderts ihr gelehrtes Interesse an antiken Denkmälern im Aufbau umfangreicher Sammlungen bekundet. Einer von ihnen war Graf Hermann zu Manderscheid-Blankenheim, der in seinem nicht weit entfernten Schlosspark und Hof, »Heidentempel« genannt, unzählige wertvolle Stücke vereinte. Doch, da ist sich Bauchhenß sicher, der Graf hat davon nichts weggegeben, auch nicht für eine Kirche. Bestimmt aber trug sein Sammeleifer zur Aufwertung gefundener römischer Fragmente als Zierde einer Kirche bei. Der Fundort der weißgekalkten Büste im Chorgiebel ist unbekannt. Die Anlage der Hubertuskirche besteht aus einem kurzen, nahezu quadratischen Langhaus (6,18 Meter lang, 7 Meter breit), an dessen Nordwestecke der zweigeschossige Turm herangerückt ist. Die ihm entsprechende ausgesparte Südwestecke wurde 1753 in das Langhaus aufgenommen. Der Chor ist eingezogen und hat noch quadratische Form (4,40 Meter mal 4,50 Meter). Sein Satteldach ist von dem Langhaus abgesetzt, so dass die beiden niedrigen Baukörper eine kompakte Gruppe bilden, die der gedrungene Turm mit seiner Spitze über dem flachen Zeltdach charaktervoll überhöht. Dicke Mauern und derbe Formen geben der Kirche ihr urwüchsiges Erscheinungsbild. Im Chor sind noch spitzbogige Fenster mit Dreipassabschluss erhalten. Die anderen Fenster sind bei Renovierungen im 18. und 19. Jahrhundert verändert worden.

Pfeiler aus Holz

Man betritt die Kirche durch eine niedrige rundbogige Tür im nördlichen Langhaus und geht drei Stufen hinab ins Schiff. Gleich rechts öffnen sich spitzbogig die mächtigen Mauern des Turmes, man hat Einblick in seine kleine holzgedeckte Halle. Die Überraschung im Innern ist ein achteckiger Mittelpfeiler, der aus Holz und nicht, wie sonst üblich, aus Stein gearbeitet ist. Auch trägt er nicht wie das klassische Vorbild der Einstützenkirchen in Kues (s. Meckel) vier Gewölbe, deren Rippen aus ihm emporstrahlen. Als spätgotische, modische Errungenschaft gliedert er den nahezu quadratischen Raum in zwei Schiffe (die Verlängerung des südlichen stammt von 1753) und stützt dabei die noch althergebrachte flache Balkendecke. Er nimmt ihren kräftigen, längsgerichteten Hauptbalken auf.

Die Fensteröffnungen demonstrieren massige Mauern, wie auch der weit und spitzbogig ausgeschnittene Triumphbogen. Der Chor dahinter ist kreuzgewölbt, die Gewölberippen ruhen auf plumpen Dreiviertelsäulen mit Schaft. Den kleinen Raum füllt der Hochaltar, eine Holzarbeit von 1755. Er reicht bis unter das Gewölbe und zeigt, von messingbeschlagenen Säulen gerahmt, ein Gemälde mit der Darstellung des Hirschwunders des Patrons der Kirche. Anbetend kniet Hubertus im Wald vor der Erscheinung des strahlenden Kruzifixes im Geweih des stolzen Hirsches nieder. Als Skulptur mit Bischofsstab und dem Hirsch zu seinen Füßen bekrönt Hubertus außerdem den Nischenaufbau des Altares. Im südlichen Schiff findet sich seine Figur ein drittes Mal (19. Jahrhundert). An der Nordwand des Chores fällt das große Bruchstück eines gusseisernen Nothelferkreuzes aus dem 16. Jahrhundert auf. Am verbliebenen Querbalken sind sechs Einzelfiguren von Heiligen befestigt, am Schaft ist das ausdrucksvoll gestaltete Relief mit dem hl. Sebastian noch sehr gut erhalten. Darunter steht: »Leve More (Mutter) bedt vor mich". Der Raumeindruck des zweischiffigen Kircheninneren wird vom dunklen Holzpfeiler, aber auch von zwei gemauerten, großen Altartischen bestimmt, die an der Wand unter Konsolfiguren neben dem Triumphbogen viel Platz einnehmen. Auf der rechten Seite stellen die farbig neugefassten Holzplastiken die hl. Barbara (18. Jahrhundert), die Muttergottes und den hl. Isidor dar (17. Jahrhundert), der als Patron der Bauern um Regen angefleht wird. Die Heiligenfiguren über dem linken Altartisch, ebenfalls farbige Holzskulpturen und restauriert, sind älter. Die eindrucksvolle Pietä stammt aus dem 15 Jahrhundert. Maria, mit feingesäumten Gewändern und kunstvoll gefälteltem Kopftuch bekleidet, starrt mit aufgerissenen Augen und hochgezogenen Brauen ins Leere. Sie hält den steifen toten Sohn fast aufrecht auf dem Schoß. Sein weißer nackter Leib, ausgezehrt und dürr, verkörpert gotisch expressiv seine durchlittenen Qualen. Die beiden Heiligen Erasmus und Elisabeth, Arbeiten aus dem 16. Jahrhundert, wirken daneben ruhig und beschaulich. Ihre Gesichtszüge sind entspannt, unangestrengt zeigen sie in steifer Haltung und Kleidung ihre Symbole vor, Brot und Bischofsstab. Die Niederkyller Bewohner beteiligten sich an den Restaurierungskosten für die Heiligenfiguren ihrer Kirche. Dazu veranstalteten sie zweimal im Sommer ein "Kapellenfest". Sie feierten und sammelten.

Abdruck aus dem Buch "Zeiten Zank und Znuber- Oic alten Dortkirchen der Eifel'' Bachem Verlag. Köln1994