Der schwarze Flock

Aloys Paquet. Hünningen/St. Vith

Als kleines Welpchen kommt er in unser Haus. Sein kohlrabenschwarzes Fell hat er von seinen Vorgängern geerbt; in allem gleicht er unheimlich seinem Urvater, dem Elsassischen Schäferhund. Seinen ersten Lehrgang absolviert er beim Onkel Jännes. Diese Schulzeit hat er seinen Lebtag nicht vergessen. In späteren Jahren spielen wir mit ihm vor Scheune und Stall. Tritt der Onkel aber aus der Tür und greift zum Stock oder zur Gabel, lässt unser Hund uns eiskalt stehen. Er folgt seinem Meister auf Schritt und Tritt. Einmal abgerichtet und ausgebildet, lebt der Flock nunmehr für seine Herde; ob Tag oder Nacht, ob Wochentag oder Sonntag, immer dieselben Verpflichtungen, so als habe er einen Kontrakt auf Lebenszeit unterschrieben. Der Flock geht weg mit den Kühen, er kehrt heim mit den Kühen. Frühling und Sommer verbringt er bei seinen Kühen auf der Weide. Die Dorfleute sind schlecht beraten, wollen sie auf kürzestem Weg quer durch die Weide. In seiner Umgebung hat der Hund sich unheimlichen Respekt verschafft. Ist er allein zu Hause, lässt er keinen Händler in den Stall. Knurrt er auffällig mitten in der Nacht, darf getrost einer von uns aufstehen und nachsehen. Eine Kuh wird kalben, oder ein Rind hat sich von der Halskette befreit und steht hilflos mitten im Futtergang. Anfang Mai wird das Jungvieh ausgetrieben und bleibt den Sommer über weit unten im Wiesengrund. Unser Flock hat mit seinem Vieh den langen Winter über im selben warmen Stall, im selben feuchten Atem verbracht. Nun kriegt er es nicht übers Herz, sich von seinen Pensionärinnen zu trennen. Die Jungtiere kennen zwar den täglichen Gang zur Viehtränke, aber der weite Weg bis zur Sommerweide ist ihnen völlig fremd. Da muss der gestrenge Flock schon nachhelfen. Ererbte Instinkte diktieren dem Ordnungshüter die zu treffenden Vorkehrungen. An jeder Wegabzweigung, an jeder Einfahrt, an jedem Loch in der Hecke bleibt er stehen und schleust die Tiere vorbei. Drei Tage und Nächte verbringt er bei seinen Rindern im kühlen Grunde. Dem Onkel, der Tag für Tag seinen Rundgang im Wiesengrund macht, bleibt nichts anderes übrig, als dem Flock Brot und Suppe ins Feld zu tragen. Mitte Sommer steht die Sonne hoch im Zenit. Heute meint sie es wahrhaftig zu gut. Unten in der Talwiese wirft sie loderndes Feuer. Sie sticht in den Nacken, sie erregt die Gemüter und bringt wachsende Unruhe in die Herde. Die erdrückende Hitze und all die bissigen grauen Fliegen: dazu noch magere Weide und wenig, wenig Wasser. Nein, das ist zuviel auf einmal! Die geplagten Tiere wollen heraus, koste es, was es wolle. Sie heben die Sterze, und im Laufschritt geht es an den Zäunen entlang. Sie suchen einen Fluchtweg. Alte Wiesen haben bekanntlich auch alte, gebrechliche Zäune. Eine ältere Kuh versucht, zwischen den rostigen Stacheldrähten auszubrechen, eine jüngere setzt kurzerhand über den Zaun. Da legt unser Flock als Wächter und Hüter soviel Eifer an den Tag, dass es zu bösen Überraschungen führt. Der Hund springt auf. schaut verstört drein, er zittert vor Wut und Erregung. Unbedingt will er die Ausgerissenen zur Vernunft bringen, sie zurückzwingen. In seinem Übereifer sprengt er hinter den Tieren her, treibt sie durch Getreide- und Kartoffelacker, immer den Zaun entlang, so lange, bis er und die Verfolgten völlig erschöpft sind. Seine Laufkraft ist zu Ende. Er wirft sich hinter einen schattigen Strauch am Zaun, das Maul weiß vor Schaum. Ein guter Nachbar hat den Vorfall gemeldet. So finden wir den armen Flock mit nassem, enttäuschtem Blick, mit klaffendem Maul. Die heraushängende Zunge zuckt und tropft. Er zittert, als habe er Schüttelfrost. Pudelnass geschwitzt und völlig kraftlos, auch ein bisschen beschämt, duckt er seinen schönen schwarzen Kopf unter die tiefhängenden Ähren des Kornfeldes. »Flocki, Flocki, sieh mal, was hast Du angerichtet!" Zum Schluss muss mit den Grenznachbarn wieder alles ins reine gebracht werden. Bei der Herde auf der Spätsommerweide hat der Flock sich die nötige Achtung verschafft. Er ist gut zu den Tieren, mehr nicht. Intime Schmusereien mag er nicht, er legt Wert auf respektable Distanz zwischen Hüter und Gehüteten. Er kennt jede Kuh mit Namen, Farbe und Charakter. Die älteren Kühe schütteln den Kopf; die nehmen ihn gelassener, nicht allzu streng und ernst. Die jüngeren bleiben auf Distanz, sie fürchten ihn. Regelmäßig macht er seinen Rundgang. An den Feldrändern heißt es: Bis hierher und nicht weiter. Er muss seine Herde beisammen halten. Dann streckt er sich ins Gras, legt den edlen schwarzen Kopf zwischen die Vorderpfoten und lässt gelassen seine wachsamen Blicke über die Weidegrenzen schweifen. Bisweilen springt er plötzlich auf. Er muss eine Ausreisserin zur Vernunft bringen und sie aus dem benachbarten Kohlfeld zurückholen. Dann tauft alles wieder seinen gewohnten Gang. Die weite Stille wird nur unterbrachen durch das taktmäßige Grasrupfen der weidenden Tiere.

Im Spätherbst kommt alles Vieh wieder in den Stall. Stolz auf seine gute Saisonleistung steht der Hund stramm neben der Stalltür. Fragend schaut er mir ins Gesicht, dann drückt er seine kalte, feuchte Schnauze gegen mein Knie. »Komm, alter Lumpsack! Ja, Flock, Du hast Deine Sache wirklich gut gemacht. Nun komm in Dein warmes Winterquartier!" Im Futtergang zwischen Stalltür und erster Kuh liegt ein ganzer Berg frisches Stroh für ihn bereit. Wenn die letzte Kuh an der Kette hängt, kuschelt sich der Flock behaglich in sein weiches Bett. Er lässt sich striegeln und streicheln, kraulen und verwöhnen. Zwischen all den Strohhalmen greife ich nach seinem schönen Kopf mit den feurigen Augen und drücke ihn fest zwischen beide Hände.

Mitten in einer Mainacht stirbt der Valer, der Herr des Hauses. Unser Hund, der schwarze Flock, der sich bis dahin noch nie auf den Speicher gewagt hatte, kommt die Treppe herauf und verkriecht sich scheu in eine Ecke der Sterbekammer.