Der Westwall

Herbert Blum. Ormont

Trotz großer Bemühungen, den Westwall zu beseitigen, wird er wohl nie ganz aus dem Landschaftsbild zwischen Eitel und Ardennen verschwinden.

Nach Artikel 42 des Versailler Vertrages war es Deutschland verboten, im Bereich des linken Rheinufers Befestigungsanlagen zu errichten oder zu erhalten.

Im Jahre 1934 schon ignorierte Hitler die Rüstungsbeschränkungen des Vertrages und führte die allgemeine Wehrpflicht ein. Am 7. März 1936 stationierte er Truppen im entmilitarisierten Rheinland.

Die deutsche Propaganda argumentierte, dass man der französischen Verteidigungslinie (benannt nach dem französischen Kriegsminister Maginot und zum großen Teil in den Jahren 1930 bis 1934 erbaut) nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen habe. Erste Bauten entstanden im Jahre 1937. Der Befehl zum beschleunigten Ausbau erging am 28. Mai 1938. Das Hitler-Regime plante eine

Befestigung entlang der deutschen Westgrenze vom Niederrhein bis zur Schweizer Grenze. Der Westwall hatte letztendlich eine Länge von 630 km, mit 14 000 Bunkeranlagen und Kampfständen. Die Baukosten betrugen etwa 3,5 Milliarden Mark.

Der Bau einer Befestigungsanlage mit solch riesigen Ausmaßen erfordert naturgemäß ein großes Potential an Menschen, Material und Finanzen. Um das Volk zu motivieren, den Bau tatkräftig zu unterstützen, wurde ein Propagandafeldzug gestartet. Man verwies auf den Limes, der die Römer 500 Jahre vor den Germanen geschützt habe. Die Nazis suggerierten den Menschen im Deutschen Reich, besonders aber im Ausland, einen rein friedlichen und defensiven Charakter der Anlage, die ausschließlich zur Verteidigung erbaut werde. Quintessenz aller Propaganda war die Behauptung, Frankreich wolle sein Staatsgebiet bis zum Rhein expandieren. Neben dem Schutzbedürfnis als Legitimation zürn Bau des Westwalls

Höckerlinie - beinahe freundlich sieht sie heute aus, umwachsen von Wildblumen und Bäumen.

wurde die Errichtung der Anlage auch stets als »große, dem Nationalsozialismus zu verdankende Leistung« gepriesen. Stolz berichtete man, dass Deutsche aus allen Gauen am Bau mitgewirkt haben. Die Demagogie zeigte Wirkung. Über längere Zeit hinweg erfüllte der Westwall seinen Zweck. Im Inland diente er, wie schon beim Autobahnbau, als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Außenpolitisch, und das war ja auch der primäre Sinn der Anlage, erfüllte der Westwall durchaus die in ihn gesetzten Erwartungen. Hitler plante ja schon den Überfall auf Polen und fürchtete ein Übergriff Frankreichs auf deutsches Territorium.

Frankreich hatte den Polen am 19. Mai 1939 zugesagt, bei einem Angriff Hitlers auf ihr Land, seinerseits binnen 15 Tagen gegen die deutsche Westgrenze vorzurücken. Der Westwall diente als Abschreckung und sollte die Franzosen an diesem Vorgehen hindern. Hitlers Plan ging auf. Der Übergriff blieb aus. Doch nicht etwa, weil die Grenzbefestigung wirklich unüberwindbar war, sondern weil man im Ausland, insbesondere bei den Entente-Mächten glaubte, wenn er schon nicht unbezwingbar sei, so würde er doch nur unter erheblichem Aufwand eingenommen werden können. Man befürchtete große Verluste von Menschen und Material. Hitlers Propaganda-Maschinerie hatte den Westwall zu einem solch starken Verteidigungsbollwerk hochstilisiert, dass sein realer Zustand im Ausland weit überschätzt wurde. Welchen Respekt General Eisenhower vor der Anlage hatte, zeigt sich in seiner Einschätzung: »Eine Befestigungsanlage, die nur von gut ausgerüsteten und entschlossen vorgehenden Kräften genommen werden kann.« In Wahrheit sollte es dann Anfang 1945 nur wenige Wochen dauern, und die Alliierten hatten den Westwall ohne größeren Widerstand überwunden.

Dies lag natürlich auch daran, dass die Anlage beim Polenfeldzug als Rückendeckung und nach der Besetzung Frankreichs eigentlich ihre Schuldigkeit getan hatte. Hitler sah einen weiteren Ausbau als nicht mehr notwendig an. Selbst die bestehenden Anlagen hielt man nicht mehr in Stand.

Die Bevölkerung in unserem Raum glaubte aber durchaus an den friedenserhaltenden und abschreckenden Charakter der »Höckerlinie«. Der Bau der Anlage und die damit verbundenen Umstände und Veränderungen lösten in den betroffenen Dörfern allerdings zwiespältige Gefühle aus.

Zum einen führte der Bau zu einer wesentlichen Belebung der Wirtschaft. Ab dem Jahre 1938 strömten über 400 000 Arbeiter ins Grenzgebiet. Die Menschen hier, zumeist Bauern und einige Handwerker, waren religiös und mit der Kirche tief verwurzelt. Sie liebten, trotz vieler Entbehrungen, ihre Heimat, und waren geprägt durch das karge Leben. Nun aber kam diese Menschenmasse in unsere stille, beschauliche, abgeschiedene und von der Öffentlichkeit kaum beachtete Gegend. In vielen Dörfern sahen sich die Einheimischen unversehens in die Minderheit gedrängt.

Da viele Westwallarbeiter in Privatquartieren untergebracht waren, bot sich hier eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Man bekam pro Mann und Tag 2,50 RM für Kost und Logis.

Historisches Foto - Ormonter Westwallarbeiter stellen sich gutgelaunt dem Fotografen.

Doch mit der Beschaulichkeit hatte es nun ein Ende. Tagtäglich quälten sich unzählige Lastwagen, Omnibusse und Militärfahrzeuge über die Straßen. Riesige Mengen an Baumaterial wurden herbeigeschafft. So etwas hatte man hier noch nie erlebt. Geschäftstüchtige Eifeler, die kleine Fuhrunternehmen unterhielten, konnten sich eine »goldene Nase« verdienen. Am Anfang wusste man nicht so recht, was dies alles zu bedeuten hatte. Es gab Vermutungen und Gerüchte. Doch dann wuchsen Betonklötze wie Pilze aus dem Boden, es entstanden Stacheldrahthindernisse, Panzersperren, Bunker. Nun ahnte man, was hier entstand; eine Befestigungsanlage. Auf dem Reichsparteitag in Nürnberg am 12. September 1938 lüftete Hitler das Geheimnis, als er in seiner typischen Polemik sagte: »Ich befahl den sofortigen Ausbau unserer Festungsanlage im Westen. Ich darf Ihnen die Versicherung geben, dass seit dem 28. Mai dort das gigantischste Befestigungswerk aller Zeiten im Ausbau begriffen ist."

Die Einheimischen standen dem Treiben der West w all arbeite r mit Erstaunen und Unverständnis, ja mitunter auch fasziniert und ablehnend gegenüber. Manche verstanden die Welt nicht mehr. Die Westwallarbeiter, meist Arbeitslose, hatten eine gänzlich andere Mentalität als die Einheimischen. Kamen die Leute abends ins Dorf zurück, führte der erste Weg in die Kneipe, und hier blieben sie meist bis zum frühen Morgen. Das schwer verdiente Geld wurde im Handumdrehen wiederausgegeben.

Die in jahrhundertealten Traditionen verwurzelten Menschen wurden quasi über Nacht mit ganz anderen, bisher unbekannten Einstellungen und Verhaltensweisen konfrontiert. Johannes Nosbüsch beschreibt in seinem Buch »Bis zur bitteren Neige« die Situation sehr treffend mit den Worten: »Und nicht wenige bis jetzt brav-aufrechte Eifeler haben darüber die Balance verloren. Sie wurden übermütig und neuerungssüchtig, ja traten nicht zuletzt auch in Sachen Moral mit dem Anspruch endlich erreichter >Aufgeklärtheit< und >Mündigkeit< auf. So breiteten sich Leichtlebigkeiten und Gewerbe aus, von denen man bis vor kurzem noch kaum wusste, dass es die überhaupt gab.« Diesen Sachverhalt finden wir auch in der Ormonter Pfarrchronik bestätigt. Dort schreibt Pfarrer Jakob Gilen: »Fast überall dasselbe Bild, Arbeiter und Lastwagen, auch sonntags. In den Geschäften und Wirtschaften Dauerbetrieb. Auch ein Teil meiner Leute arbeitet an der Befestigung. Es kommt viel Geld ins Dorf. Aber es liegt darin auch eine große Gefahr, besonders für die Jugend, die sich an ein leichtsinniges Geldausgeben gewöhnt. Viel Land geht den Bauern verloren. Es kann nicht ausbleiben, dass manche Familie nach Fertigstellung des Westwalles abwandern muss.« An anderer Stelle heißt es: "Der Westwallbetrieb nimmt noch zu. Am Goldberg wird ein riesiges Lager aufgebaut, für 1 500 Arbeiter. Nur wenige von ihnen lassen sich in der Kirche sehen.«

Zu den Westwallarbeitern kamen dann noch im Herbst 1939 die Einquartierungen durch die Wehrmacht. Dieser Zustand dauerte bis zum 9. Mai 1940. Lesen wir nochmal in der Pfarrchronik: >>Unvergesslich für alle, die dabei waren, bleibt wohl die Mitternachtsmette Weihnachten 1939. Brechend voll war das Kirchlein, die Pfarrkinder verschwanden unter den Feldgrauen, die bis an die Kommunionbank und draußen in der sternenklaren Nacht bis ans Tor des Friedhofs standen.« Oberflächlich scheint der moralische Schaden nicht so groß gewesen zu sein. Pfarrer Gilen stellt befriedigt fest: >>Mit dem 10. Mai 1940 war die Zeit der Einquartierung zu Ende. Mit dem beginnenden Herbst zogen auch die letzten Westwallarbeiter ab und große, langersehnte Ruhe ins Dorf ein. Ich kann wohl sagen, dass die Pfarrei diese schwere und gefahrvolle Probezeit gut überstanden hat. Ihre katholische Überzeugung hat sie glänzend unter Beweis gestellt.«

Doch zitieren wir zum Schluss noch einmal Johannes Nosbüsch, der sicherlich recht hat, wenn er schreibt: »Es ist bis auf den heutigen Tag die Frage, ob der abrupte Umschlag, für den die städtische Gesellschaft fast ein Jahrhundert brauchte, bei uns wirklich menschlichmoralisch verkraftet und bewältigt worden ist. Hier liegt das eigentliche Langzeitproblem der mit "der Westwallzeit in der Westeifel ausgelösten Entwicklung; die ehemals so gepriesenen Befestigungsanlagen sind im Vergleich dazu bestenfalls landschaftliche Schönheitsfehler, die sich jederzeit beheben lassen.»

Quellen:

Manfred GROSS, Der Westwall zwischen Niederrhein und Schnee-Eifel

Johannes NOSBÜSCH, Bis zum bitteren Ende. Der Zweite Weltkrieg im Kreis Bitburg-Prüm

Josef DREESEN. Der Kreis Daun im Dritten Reich