Eingeschneit...

Aloys Paquet, Hünningen/St. Vith

Erinnerungen an vergangene Winter haften fest in unserem Gedächtnis. Erzählen möchte ich von den verheerenden Wintermonaten 1928-1929. Während Wochen und wieder Wochen nichts anders als grau verhängt er Schneehimmel, Schneeverwehungen, Dauerfrost und klirrende Kälte. Selbst die ältesten Dorfväter schüttelten den Kopf und stöhnten: »Esu jätt ha mir no net erliävt!« - Abwechselnd schneite es, dann fror es knochenhart, und wieder fiel neuer Schnee; schließlich bildete sich an ungeschützten Stellen eine meterhohe feste Decke. Dann, auf einmal, mitten in der Nacht, legte der Schneesturm richtig los. Mit eiserner Faust zwang er alles, was sich draußen noch rühren wollte, unter seine unerbittliche Macht. Seine mächtigen Krallen griffen nach allem, was sich irgendwie noch wehren wollte. Wie ein wilder Blizzard hauste er m den dunklen Wäldern am Rande der Fluren, mit rasender Gier schlug er die geknickten Fichten und die zu hohen Kiefern kreuz und quer durcheinander. Er tobte auch gegen alles, was Menschenhand errichtet hatte, raste gegen die verrußten Schornsteine, gegen die zu hohen Dächer, gegen die zu breiten Scheunentore, ... er hätte am liebsten alles umgerissen. Die langgestreckten Gehöfte duckten sich unter seiner Wucht; an den niedrigen Strohdächern reichten die konischen, glitzernden Eiszapfen bis zur Schneedecke herab und das Ganze bildete ein riesiges Dekor, vollständiger hätte es kein Künstler schaffen können!

Zwischen den Häusern herrschte wirres Schneetreiben und Schneegestöber; von den Nachbardächern wehten schlangenartige, staubige Schneefahnen. An den Wegrändern, hinter den Hecken und in den Hohlwegen türmte sich mannshoher Schnee. An verschiedenen Stellen waren die Hecken gänzlich verschwunden. Riesige Schneemassen versperrten die engen Dorf- und Feldwege, der Verkehr war völlig lahmgelegt.

Unser liebes, kleines Dorf am Berghang war förmlich eingeschneit. Bis auf das armselige Telefon in der Dorfboutique waren wir sozusagen von aller Welt abgeschnitten. Die Schulkinder, die am Rande des Dorfes wohnten, kamen zu spät zur Schule: die kleinen Mitschüler aus dem Richtenberg, die über den Berg kommen mussten, fehlten eben einige Tage im Unterricht. Wie würden wir im Notfall einen Doktor oder auch den Vieharzt herbeiholen . . .? Keiner wusste dazu eine Antwort!

Es kam vor, dass die Hebamme von starken Männerarmen durch einen verschneiten Hohlweg zu der wartenden Mutter getragen werden musste.

Es geschah auch, dass der brave alte Pastor unten aus dem Tal, mit der Hostie für den Versehgang unter dem Gewand, es nicht immer bis zum Hause des Sterbenden schaffen konnte. Die Wegzehrung kam zu spät, und das Glöcklein in der Hand des Messdieners klingelte vergebens.

Nun war guter Rat teuer! Abends in der Ucht rückten die Gemeindeväter ihre Stühle um den glühenden Holzofen enger zusammen. Sie planten und berieten stundenlang, dazu qualmten sie eine Unmenge Tabak. Jede Möglichkeit wurde erwähnt und alles ausführlich besprochen. Von morgen ab hieß es mutig und tapfer zugreifen.

Am folgenden Morgen, gleich nach dem Viehfüttern, waren genügend freiwillige Schneeschaufler und die nötigen Fuhrleute mit ihren Pferdegespannen an Ort und Stelle. Dampfend und schnaufend schleppten vier oder auch sechs kräftige Ackergäule den plumpen hölzernen Schneepflug durch die engen Dorfgassen. Eine Reihe vermummter Männer saß als Ballast auf den dicken Querplanken. Sie qualmten die Pfeife, schwatzten munter und trieben die Pferde an. An Wegrändern mit zu hohem Schnee saß der Fuhrmann im Sattel des vordersten Pferdes. Das ganze Gefährt machte mächtig viel Radau und verschwand schließlich hinter einer Wolke von aufgewirbeltem Schneestaub. Wir kleinen Jungen liefen hinterher und freuten uns nicht wenig an diesem aufregenden Geschehen. War das ein Spaß! Der Dorfschöffe stand gebieterisch am Wegrande, er gab den Fuhrleuten Anweisungen und zeigte den Schauflern die Ecken, wo kein Schneepflug hinkam. »Nu Jonge, nu jett ech dran, hei fählt het net an Arbischt!« Einer der Angesprochenen, der fest auf seiner Schaufel gestützt, echt "rottenmäßig" so da herumstand, gab gelassen zurück: »Dat könne mer jo man, do fählt nemme no an jut Drepp!« Auch für uns Kerle hatte der Gemeindevertreter seine Anordnung: »On dir Panzer, mät, dot dir flott hemkommt, esos ...!« Im Nu waren wir verschwunden! Die Hände steif vor Kälte, Nase und Fingerspitzen blau, rannten wir anschließend zum Nachbarn in die warme Stube. Wir drängten uns an die Fensterbank, hauchten ein Guckloch in die vereiste Scheibe und starrten hinter den Gardinen in den kleinen Gemüsegarten. Vor unseren Augen, am »Schwarze Krischelstronk« baumelten ausgediente Speckschwarten, umschwirrt von schwarzen und blauen Meisen. Rotkehlchen gab es überall, sie hockten in der Hecke, huschten durch die Sträucher und stießen manchmal sogar gegen die kleinen, vereisten Fensterscheiben. Danach liefen wir durch die Stube, stiegen die zwei Stufen hinauf in die Stubenkammer, wo der Webstuhl stand. Wir staunten, wie geschickt die Weberin das glatte Schiffchen durch die langen grauen Flachsfäden schießen ließ.

Rund um die Fastelovenszeit erreichte die Kältewelle ihren absoluten Höhepunkt: Wahrend zwei Wochen schwankte das Thermometer andauernd zwischen -25 und -30°C. Die kleine Dorfschule blieb geschlossen, wir hatten »Kältefrek Am Burgsonntag konnte der Musikverein, der im engen Klassenraum mit dem Lehrer und den Schülern eifrig geprobt hatte, nicht mehr weiterspielen; die Blashörner froren einfach zu. Bei Nacht blieb der Himmel kristallklar, die Sterne funkelten nur so; es herrschte eine sibirische Kälte, Siein und Bein gefror! Von den Alten wurden wir Kinder gewarnt: »Paßt op -nemme keng Eiszappe lutsche!" Oder es hieß: »Bleivt nemme mot da naße Fonger vam Droht ewäg, esos bleivt dir no dran hänge!" Im Hause musste sich ebenfalls gegen die Kälte gewehrt werden. Die Ränder der Stalltüren wurden mit groben Strohwischen abgedichtet. Diese saugten die Feuchtigkeit des Stalles und das Atemwasser der Kühe auf und froren stein-

hart in der Nacht, morgens hingen sie herum wie lange weiße Barte. Die große Familie musste weiterleben. Aber in jedem Bauernhaus war vorgesorgt. Im Herbst war der Heuboden voller Futter und Brotkorn, der gewölbte Keller voll Esskartoffeln. Fast jede Woche wurde in der Tenne gedroschen. Beide Mehlkisten waren Anfang Winter bis an den Rand gefüllt; die eine mit Brotmehl, die andere mit grünlichem Buchweizenmehl. Der Sack mit grobem Kochsalz stand oben auf dem Speicher, Apfel und Weißkohl konnten es aushallen, sie lagerten wohlverwahrt unter dem Kafbett und erfroren nicht. Im Keller, auf der Bretterstellage unter der gewölbten Decke, duftete frischgebackenes Brot. Darunter standen treu beieinander die Fleischbütte mit dem Eingesalzenen und der große Stein mit dem Sauermus. In einer besonders schlimmen Frostnacht war -trotz aller Vorkehrungen - doch Schaden entstanden. Plötzlich knallte es im Treppenhaus zum Speicher. Was war wohl geschehen? Die Weih Wasserflasche und die bunten Bohnen- und Beerenflaschen standen am nächsten Morgen da wie nackte farbige Eisklumpen, sie waren regelrecht geplatzt. Zum* Glück war am Abend zuvor der Trinkeimer von der »Stierz« in die geheizte Wohnstube gewandert!

Inzwischen wurden die Pferde »scharf gemacht"; kantig schneidende Stollen saßen fest in den vorderen Hufeisen. Der Pferdeschlitten konnte wieder zur Mühle im Tal, um frisches Kornmehl zu besorgen. Nach langen, eisigen Wochen kam der Tag, an dem der Hauptweg ganz freigeschaufelt war. Die braven Leute - der Schöffe an der Spitze - konnten wieder aufatmen. An einem besonders hellen Tage tauchte »Fesch-Jilles« nach langer Zeit wieder auf; mit seinem Heringskorb machte er die Runde durchs Dorf. De »Vegder-Männche«, ein lieber, älterer Mann mit seinem Hundekarren, versorgte uns wieder mit Zwirn, Wichse, Seife und ... Gott weiß, was allem. Schließlich gelangte auch »Petroleum-Mattes« mit seinem Pferdegespann bis hier oben, und das große Fass im Geschäft konnte neu bis an den Rand gefüllt werden. So ging das Dorfleben - trotz Schnee und Eis - leidlich weiter,

Trotz List und Tücke hatte auch dieser ärgste und grimmigste Winter unser liebes, biederes Dorfvölkchen nicht unterkriegen können; dazu hatte er auch noch - ohne es zu wollen, den Jüngeren unendlich viel Freude gebracht. Niemals hatte die Dorfjugend soviel geschüttet und gerodelt. So gegen Abend, zwischen Kaffeetrinken und Viehfüttern, war das halbe Dorf auf den Beinen. Nur die Alten blieben zu Hause in ihren warmen Stuben, um ständig den Holzofen zu »slochen«.

Mit Tagen war der lange Schulweg eine einzige Rutschbahn.

Die Wiesen unten im Tal, die im Spätherbst überschwemmt waren, bildeten nunmehr eine weiße, manchmal tückische Eisfläche. Das war ein Paradies für die wenigen Schlittschuhläufer des Dorfes. Nach den Schulaufgaben wurde jede freie Stunde draußen verbracht. Da gab es kein Schulkind, das nicht gut gleiten oder Schlittenfahren konnte.

Alt und jung fuhr Schlitten, am Rande des Dorfes den steilen Hang hinunter bis unten in die »Gracht«. Mit allem, was rutschen wollte, wurde gefahren. Für uns musste der alte, verschlissene Familienschlitten mit seinen schon schrägstehenden, abgenutzten Kufenbrettern herhalten, eine einfache, flache Bretterpritsche. Wir legten uns auf den Bauch oder setzten uns zu zweien oder dreien fest hintereinander. Fürs ganze Dorf gab es nur zwei neuartige, richtige Rodelschlitten. Der eine gehörte dem Michel, einem flotten und geschickten Lenker, der andere gehörte der Tresi.

Schließlich gab es noch einen schweren und plumpen, selbstgezimmerten Bauernschlitten. Der konnte schon was aushalten. Der Steuermann mit angeschnallten Schlittschuhen saß ganz vorne, die ganze Sitzfläche war voll mit Kindern bepackt und schließlich kniete noch einer von uns hinten drauf, er musste dem schweren Fahrzeug den Anschub geben.

Aus einem alten Fahrrad hatten Philipp und Johann sich einen "Bock" gebaut. Die beiden Räder waren durch grobe "Holzschuhe" ersetzt, auf die alte Schlittschuhe festgeschraubt waren. Mit großer Geschicklichkeit und flottem Tempo steuerten die Erfinder ihr wunderliches Fahrzeug den Hang hinunter. - Winterleid, aber auch Winterfreuden!