Der Birnbaum

Theo Paulv, Gerolstcin

Er wuchs hinterm Haus, etwa drei Schritte von der Ecke entfernt, an der Giebel- und Rückwand des Hauses aufeinandertrafen. Sein Stamm war recht umfangreich für einen Baum seiner Art; ab zwei Metern Höhe neigte er sich dem Hause zu, und das Geäst reichte fast zu zwei Dritteln über das Hausdach. Einzelne Äste ruhten gar darauf, und da das Dach mit Zinkpfannen gedeckt war. gab das schlurfende und schleifende Geräusche, die im ganzen Haus zu hören waren, wenn der Wind durch die Baumkrone fuhr. Nun wäre es sicher ein leichtes gewesen, die entsprechenden Äste abzusägen, doch es wurde niemals Hand an diesen Birnbaum gelegt.

In den insgesamt drei Hausgärten, die zum Anwesen gehörten, wuchs je ein großer Birnbaum; jeder trug eine andere Sorte Früchte. Aus diesen drei Bäumen wurden alljährlich zur kalten Jahreszeit überflüssige Äste und Wassertriebe herausgeschnitten; sie wurden »beschnitten-, wie die übrigen Obstbäume in Gärten und Wiese. Der Birnbaum am Haus blieb unversehrt. Allenfalls brach der Sturm schon einmal ein paar morsche Äste ab, die sich dann teils in den noch gesunden verhakten, teils zur Erde fielen.

War dieser Baum am Haus so wertlos, dass man sich nicht um ihn kümmerte, oder umgab ihn ein gewisses Tabu, das nicht gebrochen werden durfte? Ich weiß darauf keine Antwort. Es war ja nun nicht so, dass seine Früchte ungenießbar gewesen wären. Im Gegenteil, die Birnen wiesen zur Zeit der Reife ein äußerst schmackhaftes Aroma und eine herrliche Süße auf. Allzu saftig waren sie zwar nicht, eher etwas mehlig, und dennoch wurden sie von allen geschätzt und gern gegessen. Und weil sie stets Ende Juli, Anfang August reiften und den ganzen August über essbar waren, hießen sie "Augustbirnen". Sie waren also eine recht frühe Obstsorte. Und wie der Augustapfel als früher Apfel nicht besonders haltbar ist, waren es die Augustbirnen ebenso wenig. Sie eigneten sich nicht dazu, eingekocht oder gelagert zu werden; sie wurden so gegessen, wie sie reiften

und zur Erde fielen. Auf eine besondere Art jedoch waren sie zu konservieren: Ein Großteil der Früchte wurde im Backofen getrocknet, danach in einem hohen, aus Stroh geflochtenen und mit einem Holzdeckel abgedeckten Korb aufbewahrt und im Winter zu Birnenmus, dem Eifeler »Bunnes« verkocht, der dann als wohlschmeckender brauner Belag für den Hefekuchen, den »Flödden« diente.

Am Baum hielten sich die Birnen recht lange. Sie wurden ja auch nicht gepflückt oder »geschüttelt"; man wartete, bis sie von selbst herunterfielen, hob sie auf, stopfte sich die Taschen voll, wenn man zur Arbeit auf das Feld ging oder die Kühe zur Weide trieb, ließ sie sich schmecken, unterwegs oder während einer Arbeitspause. Auch wenn zur Zeit der Getreideernte der »Nachmittagskaffee" mit ins Feld genommen wurde, lag außer den Braten, den »Schrnerren«. eine ausreichende Anzahl Augustbirnen im Korb. Wenn dann das Getreide eingefahren wurde, die Zugtiere angeschirrt und der Erntewagen gerüstet war, wurde vor der Abfahrt noch ein Gang ums Haus zum Birnbaum gemacht, um sich die Taschen mit Augustbirnen zu füllen, deren Verzehr die oft lange und langweilige Anfahrt zum Getreideacker versüßte. Die Augustbirnen gehörten einfach zum Sommer und zur Erntezeit dazu. In der Erinnerung kann ich noch ihren typischen Birnengeschmack abrufen und höre das Plop-Plop, wie sie des Nachts vom Baum aufs blecherne Hausdach fielen. Das störte damals den Schläfer im Zimmer unterm Dach nicht im geringsten, nein, es gab ihm ein Gefühl besonderer Geborgenheit. Diese Geräusche gehörten zum Haus, machten es "heimlich", ebenso wie das Klirren der Kuhketten im Stall. Der Birnbaum war vom Haus nicht wegzudenken; er gehörte dazu wie der Schornstein oder das Dach.

Wer ihn gepflanzt hatte, wer weiß es? Er fiel zur gleichen Zeit, als das alte Fachwerkhaus abgerissen wurde. Als das Haus nicht mehr stand, hatte auch er seine Existenzberechtigung verloren.