Alle Tassen im Schrank?

Gertrud Knobloch, Bonn

Tassen haben mich schon als Kind fasziniert. Zunächst war da die riesige Tasse der Oma, mit Blumen und Früchten erhaben verziert, auf der in dicken goldenen Lettern die Aufschrift - Der lieben Mutter- prangte. Wenn die Oma besonders guter Laune war, bekam ich die Tasse leihweise, und der Kakao schmeckte nochmal so gut aus diesem Kunstgebilde. Außer mir und der Oma war allerdings keiner da, der die Tasse gebührend zu schätzen wußte. Mein ältester Onkel, der nicht mehr im Hause lebte, habe sie aus Straßburg mitgebracht, wie auch seine erste Frau, hieß es, die leider in der Fremde bald im Kindbett sterben musste. Die Oma hatte sie sehr geschätzt, deshalb war ihr sicher auch die Tasse so lieb. Es war eine echte, elsässische »Frühstückstasse", wie sie mir später von meiner elsässischen Freundin als solche vorgeführt wurde; schüsselchenartig, für ein ganzes Kännchen und nur für den Morgenkaffee gedacht. So kann man sie heute noch im Elsass erstehen.

Die Vorliebe für überdimensionierte Frühstückstassen ist mir geblieben, wenn ich auch keine aus dem Elsass besitze. Statt dessen benutze ich abwechselnd eine, die wir beim Campen am Gardasee erstanden und eine, die ein Wächter des Londoner Towers ziert. Omas Tasse besitze ich leider nicht mehr, kann mich auch nicht erinnern, dass sie zu Bruch gegangen ist - oder sollte ich daran etwa selbst schuld gewesen sein und es verdrängt haben? Wie dem auch sei - leider ist sie weg, nicht mehr im Schrank und das bedauere ich sehr, denn gleichwertiger Ersatz ist auch auf Flohmärkten kaum zu finden.

Vor dreißig, vierzig Jahren kamen sie in Mode, überall billig zu erstehen: die Sammeltassen. Lange waren sie dann ganz modern, doch schon vor zehn Jahren Antiquität. Wenn man sie damals auch noch preiswert haben konnte - ich kaufte eine für sechs Mark - so ist es heute für mich kaum verständlich, dass ich mich erinnere, mir vor Jahren Vorwürfe gemacht zu haben, für welch unnötiges und längst nicht mehr gebrauchtes Stück ich so viel Geld ausgegeben hatte.

Heute sind 40 bis 50 Mark die untere Preisgrenze für eine Sammeltasse. Außer meiner jüngeren Schwester und mir mochte schon vor vierzig Jahren niemand Sammeltassen in der Familie. Die Mutter vermied es, sie auf den Tisch zu bringen und höchstens an Werktagen kamen sie zu Ehren, wenn Besuch da war. Für Sonn- und Festtage benutzte sie eines ihrer zwei "guten Geschirre", blau gemustert oder weiß mit Goldrand,

Dabei war das viele Gold auf den Sammeltassen nach meiner Ansicht doch viel schöner und prunkvoller! Ich suchte mir nach Möglichkeit in Konkurrenz mit meiner Schwester die schönste aus und kein Kuchen auf dem Tisch war mir so wichtig. Obwohl wir beide um die Wette der Mutter möglichst zu jedem Namenstag oder Muttertag eine neue Sammeltasse verehrten, gingen diese nach und nach zu Bruch, das heißt, wenn ein Stück des dreiteiligen Ensembles entzwei ging oder einen Sprung bekam, wurde der Rest gnadenlos dem Alltagsgeschirr einverbleibt.

Das hatte daheim auf dem Lande viel auszuhalten. Wurden solche Teile doch sogar aufs Feld mitgenommen, um während der Arbeit als Tassen für den Kaffee zu dienen. So gingen Stücke aus leichtem Porzellan bald in Scherben. Wie schade! Es rührte mich an wie ein Anruf aus der Jugendzeit, als ich neulich so einen Henket mit einem Stück Tasse daran bei einem Spaziergang in meinen Heimatgefilden auf dem Acker entdeckte, noch dazu einen mit dem Bruchteil des Zwiebelmusters vom guten Geschirr meiner Großmutter!

Wie schade, dachte ich. dass ich längst nicht mehr alle Tassen im Schrank habe!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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