Ein Kreuzweg unserer Tage

Hugo Finken, Daun

Seit April 1994 ist Daun um ein Kunstwerk reicher. Dr. Bruno Carnessali schenkte der katholischen Pfarrgemeinde einen von seinem Bruder gestalteten biblischen Kreuzweg. Er wurde im Mai von Generalvikar Werner Rössel, ehemals Pfarrer in Daun, geweiht.

Geschichte der Kreuzwege

Kreuzwege und ihre Andachten haben eine lange Geschichte. Die tiefsten theologischen Wurzeln der volkstümlichen Verehrung des Leidens Jesu und seiner Auferstehung dürften in der Kreuzestheologie des Hl. Paulus liegen, der im 1. Korinther-Brief schreibt: »Wir verkündigen Christus als den Gekreuzigten." (1,23). Christliches Leben ist für Paulus vor allem Kreuzesnachfolge als Gemeinschaft mit dem auferstandenen Christus. Dieser Gedanke wird bei frühchristlichen Märtyrern zur buchstäblich gelebten Wirklichkeit. Ignatius von Antiochien schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Rom: ».. . gönnt es mir, die Leiden meines Gottes nachzuahmen«. In liturgischen Gebeten erscheint nach und nach der Gedanke der Mittlerschaft des nachösterlichen Christus beim Vater.

So richtet die Kirche ihre Gebete an Gott als Vater "durch Jesus Christus, unsern Herrn«. Für die Entwicklung der gläubigen Betrachtung des Leidensweges Jesu, für die Anlage von Wegen, auf denen man das Leiden und Sterben Jesu meditierte und für die bildnerische Ausgestaltung des Kreuzweges sind die »Heiligen Stätten" in Jerusalem von entscheidender Bedeutung, Es ist sicher keine übertriebene Fantasie, sich vorzustellen, daß die Mutter Jesu und seine Jünger nach seinem Tode die Orte aufsuchten, die in Jesu Leiden und Leben von besonderer Bedeutung waren. Aber die Frühkirche dachte nicht an andachtsvolle Verehrung des Leidensweges Jesu. Die geschichtlichen Anfänge unserer heutigen Kreuzwege, besonders von Kreuzwegen, die außerhalb von Kirchen mit dem Endpunkt auf einem Berg angelegt sind, müssen wir in den frühen Pilgerfahrten nach Jerusalem suchen.

Der bekannteste frühe Pilgerbericht ist die interessante Aufzeichnung der gallischen Nonne Aetheria (um 380 n. Chr.). Sie erzählt bereits von Prozessionen zum Ölberg und zum hl. Grab.

Um die »geistlichen Pilgerfahrten^ zu beleben, entstanden schon im christlichen Altertum Nachbildungen der Hl. Stätten. So zum Beispiel in den Hauptkirchen Roms. Eines der bekanntesten Beispiele in Deutschland dürfte die St.-Michaels-Kirche in Fulda sein, die eine Nachbildung der Grabeskirche in Jerusalem ist. In der Rotunde befand sich ein hl. Grab. Mit den Kreuzzügen erhielten die Nachbildungen hl. Stätten des Lebens und Leidens Jesu im Abendland einen großen Aufschwung. Außerhalb der Kirchen stellte man zuerst Kreuze auf. Kreuzigungsgruppen entstanden, die immer mehr ausgestaltet wurden, wie wir es noch, sehen bei den »Calvaires« in der Bretagne. Der Drang, in der Heimat hl. Stätten nachzubilden, verstärkte sich noch, als das hl. Land vom Islam erobert wurde. Die außerhalb der Kirchen aufgestellten Kreuzigungsgruppen hat man gerne auf Bergkuppen postiert. Das älteste Beispiel einer freistehenden Kreuzigungsgruppe in Deutschland ist die Anlage auf dem Jerusalemsberg in Lübeck, errichtet 1468. Diese und ähnliche Anlagen wurden von Bürgern gebaut, die eine Pilgerreise ins hl. Land gemacht hatten. Die Anfänge der Kreuzwege sind sehr einfach. Bei den ältesten Wegen bezeichnete man zunächst nur die beiden Endpunkte des Schmerzensweges: Das Haus des Pilatus und das Kreuz auf Goigatha. Ein Stadttor, eine Kirche oder das Rathaus wird als Ausgangspunkt genommen und in einer Entfernung ein Kreuz oder eine Kapelle errichtet.

Die Gläubigen mochten den Weg abschreiten und dabei bedenken und erspüren, was es bedeutete, mit dem Kreuz auf den Schultern diesen Weg zu gehen.

Auf dem Ediger-Berg an der Mosel beabsichtigte man, schon 1488 ein Kreuz aufzustellen, das von dem Dorf um die Länge des Schmerzensweges, nämlich 1064 Schritte, entfernt sein sollte. Es war gedacht als Zeichen des Dankes und des Gedenkens des bitteren Kreuzganges Jesu.

Trier besaß um die Wende des 15./16. Jahrhunderts in der Witwe Adelheid Vervinus, geb. von Besslich, eine Wohltäterin, die viel für die Armen und für die Kirche tat. Ihr verdankt die noch bestehende Kreuzigungsgruppe - Jesus zwischen den beiden Schachern - an der ehemaligen Abtei St. Martin am Moselufer in der Nähe der neuen Brücke ihren Ursprung. Sie war als Stiftung für das Kloster Teil einer Kreuzweganlage.

Nachdem Kreuzwege mit den beiden Endpunkten geschaffen waren, fügte man bald dazwischen weitere Stationen ein. Vorbild dafür war der Leidensweg Jesu, die Via Dolorosa, in Jerusalem. Die Entfernung zwischen den einzelnen Stationen übermittelten Jerusalempilger, die sie dort nachgemessen hatten. Große Bedeutung für die Entwicklung des Kreuzweges hat ein Heintz Marschalk, der in Bamberg eine Wochenmesse am Freitag zur Ehre des Leidens Jesu stiftete und einen Kreuzweg mit sechs Stationen anlegen ließ. Historisch gesehen ist wohl der Nürnberger Kreuzweg ebenfalls von Heintz Marschalk. Die Originale des Nürnberger Kreuzweges, gestaltet von Adam Kraft, sind im Germanischen Nationalmuseum zu sehen. Dieser Kreuzweg hat die Stationen:

1. Jesus begegnet seiner Mutter (200 Schritt)

2. Simon de Cyrene (245 Schritt)

3. Jesus und die Frauen von Jerusalem (380 Schritt)

4. Die Szene mit Veronika (500 Schritt)

5. Der kreuztragende Jesus wird von den Juden geschlagen (780 Schritt)

6. Jesus fällt (1500 Schritt)

7. Maria beweint ihren toten Sohn.

1515 wurde in Schwaz bei Innsbruck ein Kreuzweg errichtet, der bereits 15 Stationen hatte. Im 16. Jahrhundert gab es förmliche Anweisungen zur Errichtung von solchen Andachtsstätten, Stationen also, die in Süddeutschland Martersäulen genannt wurden und von denen ein Weg zu einer Kirche führte. 1521 gibt es in Nürnberg schon ein Büchlein mit einer bebilderten Kreuzwegandacht. Den Bildern werden Schriftworte und Psalmworte zugeordnet.

Dritte Station, Jesus vor den Hohenpriestern

Von Anfang an sind es vor allem die Franziskaner, die die Errichtung von Kreuzwegen gefördert haben. Der Grund liegt in der Stigmatisierung ihres Ordensgründers, des hl. Franz von Assisi. Er hatte sich so sehr in das Leiden Jesu vertieft, das sich die Wundmale Jesu auf seinem Leib ausprägten. Dazu waren die Franziskaner zu »Wächtern« der hl. Stätten in Jerusalem bestellt worden. Ehe es zur Darstellung von 14 Stationen kommt, sind vor allem die »sieben Marterfälle Jesu« beliebt. Es sind dies:

1. Jesus wird in den Bach Cidron geworfen

2. Jesus fällt auf dem Weg von Herodes zu Pilatus

3. Jesus fällt auf der Treppe vor dem Haus des Pilatus

4. Jesus fällt nach der Geißelung

5. Jesus fällt beim Anhören des Todesurteils

6. Jesus wird auf das Kreuz niedergeworfen

7. Bei der Erhöhung des Kreuzes fällt dasselbe wieder zur Erde

Eine alte Tradition hat in unserer Gegend der Kreuzweg auf den Kalvarienberg bei Ahrweiler (1508).

Mit der Reformation und ihrer Bilderfeindlichkeit wurden die Kreuzwege vernachlässigt und verfielen an manchen Orten. Die Reformation hatte ja auch eine andere Leidenstheologie.

Das Leiden Jesu wurde nicht gegenwärtig gesehen, sondern war Vergangenheit und Erlösungstat. Damit konnte es nicht Anlass des Mitleidens sein, sondern war Anlass zur Freude. Als Reaktion auf die Reformation und ihre Verurteilung der Bilder und Andachten mit stark volkstümlichem Charakter brach in der kath. Kirche ein Geist der Buße auf. Zu ihm passte die Verehrung der Passion Jesu.

Ende des 16. Jahrhunderts wurden die Kreuzwegandachten stark von Mitgliedern des habs-burgischen Herrscherhauses gefördert. Während im 17. Jahrhundert die Kreuzwege noch vielfach die sieben Fälle (»Fußfälle«) vorstellten, wandelte sich das hin zu den 14 Stationen im 18. Jahrhundert.

Nachdem die Päpste Benedikt XIII, Klemens XII und Benedikt XIV die Kreuzwegandacht offiziell anerkannten und mit Ablässen versahen, ist die Entwicklung der Kreuzwege abgeschlossen.

Kreuzwegbilder des Priester-Künstlers Luciano Carnessali

Die Kath. Kirchengemeinde hat Daun nun einen Kreuzweg, der durch die Eigenart seiner Motive, seine theologische Tiefe und starke Ausdruckskraft auffällt; er wurde geschaffen von Luciano Carnessali/Südtirol. Der Bruder des Künstlers hatte den Kreuzweg in Besitz. Sein Anliegen aber war es, die Kreuzwegbilder dort-

Vierte Station: Jesus vor Pilatus und dem Volk

hin zu bringen, wo sie der frommen Verehrung der Gläubigen dienen könnten. So wurde er aufmerksam auf die Thomas-Morus-Kirche in Daun, der ein Kreuzweg fehlte, und er schenkte der Pfarrgemeinde das »predigende Werk« seines Bruders, der Priester ist. Luciano Carnessali wurde 1928 in Lamoso, Provinz Trento/Trient geboren. Er wohnt heute in Seo di Stenico auf einer Hochebene Südtirols an der Waldgrenze. In seiner priesterlichen Funktion betreut er die beiden Gemeinden Seo und Sclemo und dort arbeitet er als Bildhauer. An seinen Kunstwerken erkennt und erspürt man, dass Don Luciano Carnessali die Botschaft der Bibel meditiert hat und mit ihr in Zwiesprache tritt zu den Fragen und Nöten unserer Zeit, auf die er bildhafte Antworten sucht. Luciano Carnessali ist Autodidakt. Seine künstlerische Begabung hat er geschult und vertieft in Paris, wo er in der Akademie »Grande Chaumiere« des Meister Moirignot einen Kurs besuchte. Zunächst war er Maler, heute vor allem Bildhauer, dessen bevorzugtes Material Bronze ist. Daraus ist auch der hier vorgestellte biblische Kreuzweg.

Die Einzelbilder sind nicht von den traditionellen, volkstümlichen Kreuzwegbildern inspiriert, sondern orientieren sich ganz an den Leidenserzählungen der Evangelisten und der prophetischen Botschaft vom leidenden Gottesknecht. Der Bildbogen ist gespannt vom Abendmahl bis hin zur Zentralbotschaft christlichen Glaubens.

Trotz biblischer Motivation ist der Bezug zu volkstümlichen Kreuzwegbildern nicht verloren gegangen. Das erkennt man vor allem an der siebten Station, auf der neben dem Simon von Cyrene auch Veronika dargestellt ist mit ihrem Schweißtuch. Von ihr erzählt nur der Volksglaube.

Der Christus dieses Kreuzweges ist nicht so sehr der im Leiden aufgehende Mensch, eher der souveräne Gottesknecht, der konsequent sein Leben der gelebten Liebe Gottes geht und der weiß, daß die Folge gewaltsamer Tod ist. Mehrere Stationen zeigen Jesus in intensiven Begegnungen mit Menschen auf seinem Leidensweg.

Immer wieder sind es Augenkontakte, die Luciano Carnessali zum Ausdruck bringt. So bei der Begegnung Jesu mit seiner Mutter, mit dem Soldaten, der ihm das Kreuz hinreicht,

Sechste Station: Jesus nimmt das Kreuz an

selbst mit den Hohepriestern und nicht zuletzt mit dem reuigen Schacher. Dennoch ist dieser Kreuzweg wirklich ein Kreuzweg. Das Leid ist überdeutlich. Man betrachte die entsetzten Gesichter der Jünger bei der Abendmahlszene, die Ironie und das Makabre in der Begegnung Jesu mit den Hohenpriestern, die hasserfüllten Gesichter derer, die die Kreuzigung von Pilatus fordern, die Kreuzigungsszene und schließlich das Sterben.

Luciano hat sich nicht gescheut, die Leidensgeschichten der Evangelisten auf seine Weise zu interpretieren. Was bedeutet es, wenn er Menschen völlig nackt darstellt, die die Kreuzigung vollziehen und wenn er eine Frau bei der Annagelung beteiligt sein lässt? Was will er sagen, wenn beim Sterben Jesu das Gesicht des Sterbenden von den Haaren verhangen ist, der Hintergrund wie ein Chaos wirkt, der römische Hauptmann voll Entsetzen die Hände vor die Augen schlägt, zwei Frauen wie versteckt am Bildrand entdeckt werden, aber ein großes Pferd wie zum Kuss sich dem Sterbenden entgegenstreckt?

Neben diesen Bildern voller Dramatik und Unruhe hängen Darstellungen, die eine tiefe Ruhe ausstrahlen; die Gethsemaneszene und die Grabszene der dreizehnten Station. Bei Carnessalis Kreuzweg fehlen die Bilder vom Fallen Jesu unter dem Kreuz ganz. Er überwindet das Kreuz, indem er mitten im Leid liebend da ist für andere. Er ist der Sieger über Sünde und Tod, der wie ein Held aus dem Grab ersteht. So stellt ihn Carnessali mit der vierzehnten Station dar. Die Botschaft dieses Kreuzweges ist die Botschaft der letzten Station: ALLELUJA.