50 Jahre nach Kriegsende

Blick zurück - ohne Zorn!

Gerhard Monschewitz, Eschweiler

Januar 1945, ich war noch nicht vierzehn Jahre alt.

Aus der Sammelunterkunft für Flüchthngskinder, einer Schule in Penig, »befreite« mich ein Mann, der hatte zwar gütige Augen, trug aber eine SA-Uniform. Das erregte mein Misstrauen. Doch er erzählte mir von seinem Hof in einem Hochtal am Fuße des Erzgebirges, von seinen drei Kindern und seiner Frau Laura. Er sprach von Kühen. Pferden. Hühnern, Enten, Gänsen, Ziegen und Schweinen. - Die Vorstellung des Erzählten nahm m mir die Form eines Paradieses an. war ich doch sechs Tage und sieben Nächte im Viehwaggon von Ostpreußen bis Sachsen gefahren.

Der Hof lag ganz romantisch und irgendwie »majestätisch« am Berghang. »Hinterm Berg gehört mir noch der Wald und ein schöner Karpfenteich«, sagte der Bauer. Dass sein Hof für die damalige Zeit ganz supermodern eingerichtet war, fiel mir sofort auf; dass es ein NS-Schulungshof war, habe ich erst am nächsten Tag gesehen. Auf dem sorgfältig gepflasterten Hof wimmelte es nur so von HJ-uniformierten »Eleven-. Das sollte sich aber sehr bald ändern. Das Gerücht machte die Runde, dass von beiden Seiten die "Feinde« nicht mehr weit waren. Von Westen her kamen die Alliierten mit den »kinderfressenden Negern« und von Osten war das Nahen der »Roten Armee« unüberhörbar. Die hatten ja in ihren Reihen die Mongolen, die »gelbe Gefahr«, vor der man uns in der Schule und auch über die Medien das Fürchten gelehrt hatte.

Es kamen in der Folgezeit immer weniger »Eleven« zum Hof und auch der anfängliche Druck der »kleinen Dorfnazis« auf mich, der sich standhaft weigerte, ihre »Spielchen« mitzumachen, ließ merklich nach. Schließlich hörte er ganz auf und ich sah im Dorf auch keine Uniformen mehr.

Sehr bald hatte ich »hinterm Berg« den Wald mit dem Karpfenteich entdeckt. Das war ein wunderbares Stückchen Erde. Der Teich hatte vor dem Damm einen guten Wasserstandsregler mit Überlauf. Etwas erhöht am Hang über dem Teich waren unter hohen Kiefern die Reste einer Bank vorhanden. Das wurde mein Lieblingsplatz. Wald, Schilf, Wasser und Wild - dort konnte ich ungestört von zu Hause träumen. Eine's Tages kamen viele deutsche Militärfahrzeuge mit dem Zeichen des roten Kreuzes. Der ganze Pulk nannte sich »Sammelsanitatspark«, der aus Italien kam. Die Fahrzeuge waren vollgestopft mit Lebensmitteln und Getränken aller Art. Ferner führten sie eine komplette Schuhmacherwerkstatt, eine Schneiderei sowie entsprechende Fachkräfte mit. Große Mengen Oberleder, meterhohe Stapel Ledersohlen und sackweise Gummiabsätze sowie viele Ballen Stoff, auch in zivilen Farben und Mustern, kamen zum Vorschein, als sie entsprechenden Raum beschlagnahmt hatten und die Fahrzeuge entluden. Der Eifer, mit dem in der Folge schöne Halbschuhe und schicke Anzüge gefertigt wurden, war schon bewundernswert. Morgens ging ich zur Schule, nachmittags arbeitete ich im Gutsbetrieb mit, für mein Essen und für meine Unterkunft. Schon längst flogen nicht nur nachts, sondern auch am Tage Flugzeuge mit dem weißen Stern über uns hinweg. Die Bomberverbände wurden von kleinen Jagdflugzeugen begleitet. Sie flogen in Richtung Leipzig und Dresden. Während eines Fliegeralarms arbeitete ich mit einem kleinen Schlesierpferdchen auf freier Fläche an einem Kartoffelfeld, als ein Jagdflugzeug aus dem über mir fliegenden Verband ausscherte, eine Wende flog und mit seinem Bordgeschütz das Pferdchen und mich unter Beschuss nahm. Das Pferdchen habe ich blitzschnell vom Gerät gelöst und zum Hof geschickt, während rechts neben uns ein Strich von Einschlägen die Erde aufspritzen ließ. Ich selbst lief zu einem in der Nähe liegenden Steinbruch, dessen bewaldete Steilwand ich erreichte, als das Flugzeug wieder eine Schleife flog und mich erneut als Ziel nahm. Was muss dieser Pilot beim Angriff auf ein Kind doch für Vorstellungen vom Sieg über einen »Feind« gehabt haben? Ich jedenfalls habe Jahrzehnte gebraucht, bevor jene Todesnähe verarbeitet war. Aber mit Misstrauen begegne ich heute noch allem, was diesen weißen Stern als Zeichen trägt.

Über Nacht waren plötzlich die deutschen Soldaten von unserem Hof verschwunden. Am Nachmittag hörten wir das Geräusch von vielen Panzern, welche von Westen und Südwesten auf unser Dorf zukamen. Hinter den Bergen wurden die Motoren dann ausgeschaltet. Einige Geschützrohre ragten drohend hervor. Da meinte der Bauer: »Komm, tauschen wir die Fahne gegen ein Bettuch aus." Am frühen Abend standen wir alle vor dem Hoftor. Eine unheimliche Stille lag über dem Dorf. Viele schauten zu uns hin, war der Hofbesitzer doch der Ortsbauernführer. Was macht er wohl, wird er flüchten?

Den Hang herauf schlichen sich sechs uniformierte HJ-Jungens, so zwischen 13 und 15 Jahre alt. Sie schleppten drei Panzerfäuste mit sich. Auf die Frage «wohin damit", gaben sie zur Antwort: "Den Feind dort oben vernichten.« Uns war klar, wenn diese verblendeten Kinder sich vom Dorf aus an die Amerikaner heranschlichen und ihre Panzerfäuste abschössen, dann waren auch unsere Stunden gezählt. Wir nahmen ihnen die Waffen ab und trieben sie in die Flucht. Voller Wut und mit Schmerzen am Allerwertesten riefen sie uns zu: »Jetzt holen wir die SS.« In dieser Nacht wünschten wir, die Alliierten würden sofort unser Dorf besetzen. Aber nichts geschah. Alles blieb ruhig. Doch ging keiner schlafen.

Gegen acht Uhr am nächsten Morgen wurden die Panzermotoren wieder angelassen. Auf der Höhe erschien ein Jeep, ein Schuss peitschte übers Dorf. Sofort wurden aus allen Häusern die weißen Fahnen herausgehängt. Ein Panzer und in dessen Schutz drei Jeeps näherten sich dem am höchsten gelegenen Bauernhof. Man sah, wie dort die Leute nach kurzer Diskussion zu uns hinzeigten. Nun war es soweit. Der "Feind" kam. Der Panzer und die Jeeps fuhren auf uns zu. Angesichts der vielen deutschen Militärfahrzeuge auf unserer Wiese näherten sie sich sehr vorsichtig. Drohend richtete der Panzer sein Geschützrohr auf uns, die wir blass und mit schlotternden Knien vor dem Hoftor standen. Nach qualvollen Minuten begann das erlösende Gespräch. Ein weißer Offizier und zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Schwarze traten zu uns. Die Sache mit den Militärfahrzeugen und den in zivil fortgegangenen Soldaten war schnell geklärt. Der Bauer konnte in seiner Eigenschaft als Bürgermeister den Amerikanern auch die Garantie geben, dass hier im Dorf kein Widerstand geleistet würde. Da war dann nur noch die Sache mit seiner Parteizugehörigkeit und den Grad seiner Funktion zu klären. (Das wussten die Amis schon). Zur Befragung würde er heute Nachmittag abgeholt und zur Stadtkommandantur gebracht, die dort erst noch eingerichtet würde. Dann waren sie fort, und die Neger hatten die kleinen Kinder nicht aufgefressen.

Draußen blieb alles ruhig. Die Panzer kamen erst gar nicht in unser Dorf, sondern fuhren zur Umgehungsstraße und von dort weiter zur Stadt.

Nun begann unsere Arbeit. Im Wagenschuppen hatten die deutschen Soldaten neben Munition auch große Mengen Lebensmittel, Stoffe, Leder, Seife, Wein und in 25-l-Ballons 96er Sprit eingelagert.

Es galt, von diesen Dingen so viel wie möglich zu bergen und zu verstecken, bevor die "Sieger" sie fortschleppten.

Doch mitten in diesen Bemühungen kamen amerikanische Soldaten, um den Bauern zu verhaften. Dieser wusste vom »Souvenir-Syndrom« der G'ls. Also hatte er die Fahne fein säuberlich gefaltet auf den Wohnzimmertisch gelegt. Darauf seine kleine Pistole und daneben noch einen SA-Dolch. Begeistert nahmen die Soldaten diese »Gaben" an. Dann wurde das ganze Anwesen durchsucht. Dabei trugen sie viele der schönen Sachen wieder zurück in den Wagenschuppen. Dieser wurde versiegelt und ein Jeep mit drei Farbigen davor postiert. Dann fuhren die anderen Soldaten fort und nahmen unseren Bauern mit. Zuerst war große Ratlosigkeit am Hofe. Dann aber hatte Laura die rettende Idee. Im Gemeindehaus waren nachts die Kriegsgefangenen untergebracht. Franzosen, Belgier, Polen und Russen. Zu diesen Menschen war unser Bauer immer gut gewesen. Als Bürgermeister hatte er die deutsche Wachmannschaft so im Griff, dass diesen klar war, dass sie Menschen bewachten und sie gegen versuchte Übergriffe durch Nazis zu schützen hatten.

Sie stammten zwar nicht aus dem Dorf, aber von Zeit zu Zeit kamen welche von auswärts, um das Lager der »Untermenschen« zu besichtigen. Als Ortsbauernführer hatte er es geschafft, dass diese Gefangenen während der Arbeit tagsüber von seinen Bauernkollegen auch wie Menschen behandelt wurden. So aßen diese Kriegsgefangenen grundsätzlich am Tisch mit den Bauersleuten, was streng verboten war. Und noch schlimmer, sie bekamen die gleichen Speisen. Sie erhielten Leibwäsche, Socken, Seife, Rasierzeug und saubere Handtücher. Ihre Oberhemden wurden am Hofe gewaschen und gebügelt. Sonntags gab es auch für sie frischen Bauernkuchen. Mit diesem Wissen ausgestattet, schickte Laura mich zum Gemeindehaus. Ich kann heute nicht zu beurteilen, ob das riskant war. Im gewissen Sinne waren die Gefangenen nun frei. Es gab keine Wachen mehr. »Was willst du?«, frug mich einer von ihnen. Ich sagte nur: »Die Amerikaner haben Kurt abgeholt und zur Kommandatur mitgenommen." Nach einigem Palavern waren sich alle einig. Sie gingen ins Tal in die Stadt zum Kommandanten. In der Nacht wurde dann im Gemeindehaus ein langes und sehr lautes Fest gefeiert. Die Amis halten den Männern sicher einiges geschenkt. Am nächsten Morgen kam ein Fahrzeug mit der Ablösung für die drei Neger am Wagenschuppen und es brachte auch Kurt mit. Gut gelaunt und lächelnd trat er zu uns. Er war ein freier Mann. Nur eine Auflage war ihm erteilt worden, er musste Bürgermeister bleiben. Nun wurmte uns noch, dass wir nicht an die schönen Dinge im Wagenschuppen heran konnten. Verschmitzt lächelnd sagte Kurt zu seiner Frau Laura: »Mach den Amis da draußen eine große Pfanne Eier mit Speck zum Frühstück." Er selbst nahm von dem 96er Sprit, verdünnte diesen bis auf etwa 50 % Alkohol mit dickem, süßen Pfirsichsaft zu einem lieblich schmeckenden Likör. Eine Flasche davon stellte er den Amerikanern mit zum Frühstück auf den Tisch, den sie sich vor dem zu bewachenden Tor aufbauen ließen. Kurt und Laura mussten zuerst davon trinken. Dann griffen die Soldaten zu. Und als Speck und Eier aufgegessen waren, war auch die Flasche mit dem »wunderful Likör- leer. Man bat um eine zweite Flasche. So, sagte Kurt, die Rechnung geht auf. In längstens einer Stunde schlafen sie fest. Dann holen wir uns das wieder aus dem Vorratslager, was sie uns gestern abgenommen haben. Während die Wachposten ihren Rausch ausschliefen, räumten wir durch eine große Deckenluke Teile der Vorräte in den Spitzboden über der Altenteil-Wohnung. Als gegen Abend dieses Tages zwei Lastwagen mit ganz fremden G'ls erschienen, waren die Likör-Trinker zwar noch etwas wackelig auf den Beinen, aber sie konnten dem Anführer dieser kleinen Truppe ein unversehrtes Siegel am Tor vorweisen. Als die Amerikaner das Wenige, war noch vorhanden war, aufgeladen hatten,' meinte einer: "So viel Aufwand für diese Kleinigkeiten." Wir hörten es mit ernsten Gesichtern.

Die Tage vergingen. Hinterm Berg, an der Mulde, waren die Alliierten mit den Russen zusammengetroffen. Dort war dann auch bis zum Potsdamer Abkommen die Demarkationslinie. Um die Sanitätsfahrzeuge haben sich die Amerikaner nach ersten Durchsuchungen nicht mehr gekümmert. Irgend jemand stellte fest, dass die Räder dieser Fahrzeuge zwar etwas kleiner als an den von den Bauern der ganzen Gegend benutzten Plateau-Wagen waren, aber die Lochstellung für die Radschrauben genau passte. Somit ergab es sich von selbst, dass nach einigen Tagen, oder besser gesagt, nach einigen Nächten alle Wagen ohne Räder »auf dem Bauch" auf der Wiese standen. Allmählich normalisierte sich das Leben. Voll Freude registrierten wir, dass nicht mehr geschossen wurde und es gab auch keine Luftangriffe mehr. Wir lernten Kaugummi und Coca Cola kennen, tauschten deutsche Eier gegen amerikanische Zigaretten und gingen zu der Brücke an der Mulde um »echte Russen« zu sehen.

Die Kriegsgefangenen im Dorf aus den westlichen Ländern waren schon kurz nach dem Einmarsch der Alliierten nach Hause gegangen und die aus den östlichen Ländern waren heilfroh, dass sie nicht in die Hände der Roten Armee gefallen waren. Hieß es doch, die Russen wurden ihre Leute, die sich von Deutschen haben gefangen nehmen lassen, erschießen. Den Damm vom Karpfenteich, der in den letzten Tagen vor dem Einmarsch der Alliierten auch noch durch Bomben zerstört worden war, hatten wir schon repariert und das Wasser wieder angestaut. Nur Satzfische konnten wir noch nicht kaufen, weil die Zuchtteiche auf der russisch besetzten Seite lagen. Aber die alte Bank am Karpfenteich konnte ich wieder gefahrlos benutzen. Ebenso den Hochsitz an der Köbe. Ein Fernglas, das Kurt den Arnis nicht gegeben hatte, durfte ich zu meinen "Jagdausflügen« mitnehmen. So kam dann, nach vielen schönen Abenden und Sonntags-Frühansitzen jener schicksalsträchtige Morgen Anfang August 1945, der alles verändern sollte. Es war gegen 2.30 Uhr. Vom Hochsitz aus konnte ich durch eine kleine Schneise auf den Kiesweg hinuntersehen, der sich von der im Tal vorbeiführenden Umgehungsstraße ins Dorf hinaufschlängelte. Das heißt, um diese Uhrzeit konnte ich noch nichts sehen. Aber ein Geräusch dort unten erregte meine Aufmerksamkeit. Es klang, als wenn viele hundert Pferdehufe dem Dorf zustrebten. Es wurde lauter, es wurde heller und dann konnte ich durchs Fernglas die Silhouetten von Panje-Wagen sehen. Unverkennbar als Troika mit dem Hochbügel über dem Mittelpferdchen. Wagen hinter Wagen. Ganz langsam zwar, aber sie kamen. Erschrocken lief ich zum Hof. Der Bauer wollte mir zuerst nicht glauben, was ich gesehen hatte. Aber meine genaue Beschreibung dessen, was da unten an der Straße vor sich ging, stimmte ihn dann doch sehr nachdenklich. Er rief in der Kommandantur an - und dort meldete sich schon ein Herr in russischer Sprache! Fassungslos schauten wir uns an.

Zwischenzeitlich hatte Laura die ganze Hofgemeinschaft geweckt. Auf viele bleiche Gesichter fiel das Licht von zwei Kerzen. Wir trauten uns gar nicht, das elektrische Licht anzuknipsen. Hatten wir doch aus Freude über die Befreiung vom Nazi-Regime alle Verdunkelungseinrichtungen von den Fenstern entfernt. Und vom Tal herauf kamen die Russen. Wir wussten nichts von der Potsdamer Konferenz der Siegermächte, von der dort beschlossenen Aufteilung Deutschlands. Wir glaubten fest an einen Überfall der Russen und erwarteten jeden Augenblick, dass die Amerikaner diesen Einmarsch stoppen würden. Aber nichts geschah. Wir hatten die Nachricht vom Russeneinmarsch von Hof zu Hof und von Haus zu Haus weitergeben lassen und auch, dass man die Häuser nicht verlassen sollte. Wir wollten erst einmal abwarten.

Trotzdem entstand im Dorf eine große Unruhe. In panischer Angst vor ihren eigenen Leuten flüchteten die im Dorf verbliebenen sechs russischen Kriegsgefangenen westwärts. Einige Dorfbewohner schlössen sich ihnen an. Zwischenzeitlich wurde es hell. Die Spitze der Pan-jewagenkoionne1 hatte das erste Haus des Dorfes bereits erreicht. Nirgends war ein Amerikaner zu sehen. Die große Angst ging um. Was würde hier passieren? Oben auf der Umgehungsstraße fuhren jetzt endlose Kolonnen Lastwagen, Panzer und sonstiges Kriegsgerät, mit dem Fernglas einwandfrei als russisches Militär zu erkennen. Bevor wir uns richtig in Angst steigern konnten, waren alle Dorfstraßen mit den Panjewagen zugestopft. Die hier eingerückten Soldaten waren Mongolen. Jene Menschen also, vor denen man uns durch Radio, Zeitungen und in der Schule gewarnt hatte, waren nun da. Die »gelbe Gefahr" hatte uns eingeholt, über Nacht, mein Gott, wie konnte das geschehen? -

Schneller als es uns lieb war wurde ans Hoftor geklopft. Kurt und ich öffneten. Draußen standen drei Soldaten in russischer Uniform, zwei davon sehr junge Mongolen. Der Offizier sprach uns in russischer Sprache und dem Tonfall nach zu urteilen auch nicht gerade freundlich an. Nach einigen langen Sätzen begann einer der jungen Soldaten zu übersetzen. Zu unserer Verblüffung fast fehlerfrei. Sie brauchten Wasser und Hafer für die Pferde. Zum Hafer betonte er, »falls noch weicher vorhanden ist«.

Ferner brauchten sie einige Weiden, um ihre Pferdchen auszuspannen. Sie müssten bis gegen Abend hier im Dorf bleiben. Dann erst dürften sie die Umgehungsstraße überqueren, um auf Dorfstraßen weiter nach Westen zu ziehen.

Weil Kurt der Bürgermeister war, musste er das alles organisieren. Es war ein schrecklicher Tag. Die Frauen und Mädchen blieben in den Verstecken, in die sie beim Anrücken der Russen geflohen waren. Radios und Uhren mussten erneut versteckt werden. Die deutschen Militärfahrzeuge auf der Wiese hinter unserem Hof erregten ganz besonders das Interesse der Russen. Laut diskutierten sie, wie man diese auch ohne Räder mitnehmen konnte. Auf die Frage, wo sie geblieben sind, konnten wir nur mit Schulterzucken antworten. Irgendeiner sagte »Amis«? Wir nickten dazu. Nun rüsteten die Soldaten sich endlich zum Weiterziehen. Aber wir wussten immer noch nicht, warum sie hier waren. Andererseits war uns unklar, wo die Amerikaner geblieben und weshalb sie so heimlich abgezogen waren. Jetzt wurde es Abend und die Mongolen zogen endlich fort, Frauen und Mädchen tauchten wieder auf. Das Leben begann sich zu normalisieren.

Einer warf zwar die Frage auf, was es heute Nacht geben würde, wenn vielleicht weitere Kolonnen dieser Art ins Dorf einzögen. Aber dieser Tag war so lang und schrecklich, wir waren nicht im Stande, weitere Befürchtungen zu durchdenken.

Am nächsten Morgen kam ein ganzer Mannschaftswagen russischer Soldaten zu unserem Hof. Der Leiter dieses Kommandos fragte nach dem Bürgermeister. Kurt trat vor. »Sie also. Waren sie Nazi?" Als Kurt bejahte, klappte dem Russen der Kinnladen herunter. »Warum sind Sie denn nicht vor uns geflüchtet?" Kurt sagte: »Wir wussten ]a nicht, dass Sie kamen! Wir wissen auch jetzt noch nicht; warum Sie hier sind und nicht mehr die Amerikaner.« Der Russe winkte aus der etwas abseits stehenden Soldatengruppe einen jungen Offizier herbei. Dieser hielt uns einen Vortrag über die in Potsdam stattgefundene Konferenz der Siegermächte über Nazi-Deutschland und dessen Aufteilung in Besatzungszonen und dass ein erheblicher Flächenteil, den die westlichen Alliierten erobert hatten, unter den Schutz der siegreichen Sowjetarmee gestellt sei.

Nun waren wir informiert. Mir war richtig schlecht geworden. Im nordöstlichsten Teil Ostpreußens gelang es mir im Januar 1945 im letzten Augenblick, vor den anrückenden Russen zu flüchten. Aber hier, in der Mitte Deutschlands, hatten sie mich nun eingeholt. Sogar um ein Beträchtliches überholt. Dann hätte ich auch zu Hause bleiben können. Kurt wurde von den Russen mitgenommen. Um seine Nazi-Vergangenheit zu überprüfen und zu klären, warum die Amis ihn zum Bürgermeister ernannt hatten. Gegen Abend kam er zurück.

Die Russen halten seine Titulierung von Bürgermeister in Orts Vertrauensmann geändert und mit Wünschen für eine gute Zusammenarbeit nach Haus geschickt. In den nächsten Tagen zogen noch viele Truppen der Sowjet-Armee durch unser Dorf. Bei einer Durchsuchung des gesamten Bauernhofes nahmen uns die Russen alle Waren, die wir aus dem Lagerschuppen so mühsam erbeutet hatten, fort.

Im Laufe der Zeit war den Besatzern auch aufgefallen, dass die Plateau-Wagen im Ort so mehr und weniger neu bereift waren. Die Folge war, dass alle Räder dieser Art beschlagnahmt wurden, auch die mit abgefahrenem Profil und der anderen Größe. Nach einigen Tagen waren dann die letzten Relikte des deutschen Militärs von der Wiese hinterm Hof fortgefahren worden.'

Der weitere "Einmarsch- der Roten Armee verlief ganz friedlich. Leider wurden wir in den folgenden Wochen von überall auftauchenden »roten Kommissaren« in Angst und Schrecken versetzt, von mehr und weniger verwegen aussehenden Gestalten, die sich an ihre speckigen Revers rote, aus Aktendeckeln geschnittene Sowjet-Sterne geheftet hatten. Fordernd und plündernd zogen sie von Hof zu Hof. Diesem Unwesen wurde dann durch Zufall ein Ende bereitet, in der großen Wohnstube hatte Kurt, der Ortsvertrauensmann, mit einigen Russen von der Stadt komm and an tu r eine Besprechung. Da erschienen auf dem Hof laut polternd und gebrochen deutsch redend zwei dieser Pappslern-Kommissare. Um es kurz zu machen: Die Russen nahmen sich der Sache an und machten in der Folgezeit Jagd auf diese Elemente. Wir waren dann sehr schnell die Parasiten los.

So war das Leben. Zuerst hatten uns die Amerikaner von den Nazis befreit, dann die Russen von den Amerikanern. Ich verließ die russische Besatzungszone, bevor die DDR gegründet wurde und ging nach Westdeutschland.