Erinnerung an 1945 -

mein erstes Stück Schokolade

Maria-Agnes Pinn, Steffeln.

Nach wochenlangem Ari-Beschuss unseres Dorfes rückten die Amerikaner am 5. März 1945 in Staffeln ein. Mit viel Krach kurvten die Panzer durch dreißig Zentimeter hohen Schlamm auf den Straßen. Mein Freund blieb mit seinen genagelten Schuhen darin stecken und ergriff barfuss mit mir die Flucht ins Haus. Die Angst stand uns im Gesicht, doch die Eltern beruhigten uns, der Spuk wäre sicher bald vorbei. Dann bekamen wir noch zusätzlich Einquartierungen.

Das untere Dorf musste die Bewohner des oberen Dorfes aufnehmen. So kamen sieben Familien zum Schlafen und Wohnen in unser Haus. Es wurde sehr eng. Doch irgendwie waren alle gelöst, als ob etwas Neues oder gar Gutes auf uns zukäme. Schon bald traf dies ein. Abends, wir saßen mit fünfzehn Leuten in der Küche und beredeten gerade den denkwürdigen Tag, da klopfte es an die Haustür. Vater öffnete und ein amerikanischer Soldat trat zögernd ein. Ein junger Bekannter dolmetschte seine Rede und sagte, der Ami käme als Freund und wolle sich mit uns unterhalten. Er ging nun zurück ins Depot und käme wieder mit Geschenken.

Nach kurzer Zeit klopfte es dreimal und unser Freund stand da, hatte alle Taschen seines Kampfanzuges voll Zigaretten. Kaffee und Schokolade. Letztere war mir damals Sechsjähriger völlig unbekannt. Alle Augen leuchteten plötzlich froh im Schein unserer spärlichen Petroleumlampe. Der Ami brachte Licht mit einer großen Stablampe, die viel mehr Helligkeit spendete als unsere armselige Fuselleuchte. Auf Mutters Schoß sitzend traf mich der helle Lichtkegel mitten ins Gesicht. Unser Gast lachte so herzlich, nahm eine Tafel Schokolade, brach ein großes Stück ab und reichte es mir. »Here, for you«. Artig kam mein Dankeschön. Er nahm mich von Mutters Schoß auf seine Knie, strich mir über den Kopf, und meine ohnehin schon roten Wangen leuchteten wie Äpfel im Herbst. Die Brücke war geschlagen. Alle Männer bekamen Zigaretten, Frauen und Kinder Kaffee und Schokolade. Von unserem Dolmetscher hörten wir, dass unser Besucher in den Staaten Frau und Kinder habe, auch ein Töchterlein in meinem Alter. So wurde ich des Ami liebstes Kind. Als meine Schnupfnase zu laufen anfing, nahm er ganz selbstverständlich sein grünes, ziemlich gebrauchtes Taschentuch und putzte meine Nase damit. Genau wie Vater. Bis zum*Truppen-Abzug blieb er unser Freund.

Den denkwürdigen 5. März werde ich nie vergessen. Ein Soldat sogenannter feindlicher Nation entfernte sich trotz Verbot von seiner Truppe, besuchte unsere Familien - was auch nicht gestattet war - aus reinem menschlichen Gefühl der Zuneigung. Er versorgte uns mit Kleidung. Schuhen, Lebensmitteln und genoss dafür familiäre Atmosphäre in den Wochen. Danken möchte ich dem Amerikaner, einem Menschen mit Herz, sein Name war Billy Den Familiennamen erfuhr ich nie, seine freundlichen Blicke verstanden alle, und für mich ist er mit der Erinnerung an das erste Stück Schokolade verbunden, das ich als Kind geschenkt bekam.