Vor fünfzig Jahren...

Flucht aus der Kriegsgefangenschaft

Alois Reicherts, Pelm

Anfang Mai 1945 lagen wir mit einem großen Teil unseres Jagdgeschwaders auf einem Flugplatz in Mecklenburg. Am 5. Mai kam der Verlegebefehl nach Flensburg, weil die Russen immer näher rückten. Alle Maschinen Me 109. die noch flugfähig waren, starteten am 6. nach Flensburg, ebenfalls der ganze Tross mit allen Fahrzeugen. Mit 10 Mann mussten wir als Nachkommando bleiben, um alles Gerät und die nicht flugfähigen Maschinen mit geballten Ladungen zu sprengen. Mit drei Waffenwarten, wozu auch ich gehörte, war das kein Problem. Ein Oberfähnrich, dessen Maschine nicht flugfähig war, sollte unser Kommandoführer sein. Tags drauf war die Arbeit getan und die Russen rückten immer näher. Gegen 5 Uhr sind wir dann losgefahren, immer nur Richtung Westen. Unseren Werkstattwagen hatten wir ausgeräumt, um Platz zu haben, und auf der Zugmaschine war ein 200 l Fass voll Benzin. Dazu noch ein Geländewagen, wo auch vier Mann mitfahren konnten.

In der Dämmerung mussten wir durch einen großen Wald. Hier kamen uns verkommene Gestalten entgegen, immer mehr und immer mehr. Es waren Häftlinge aus einem aufgelösten KZ. Uns blieb nichts anderes übrig, als unsere Waffen in Anschlag zu bringen und Warnschüsse abzugeben. Dadurch sind wir aber ungehindert aus dem Wald herausgekommen. Bei voller Dunkelheit machten wir in der nächsten Ortschaft Rast bis zum Morgengrauen. Die Bewohner fragten wir noch, wo die Amerikaner schon sein könnten. Sie meinten, in etwa 20 km mussten wir auf sie stoßen. So war es auch, nach etwa einer Stunde kamen wir an die ersten Vorposten der Amis. Mein guter Kamerad Erwin Frank aus Velbert, der von 1928-1938 in Chicago gelebt hatte und natürlich fließend Englisch sprach, unterhielt sich ausgiebig mit den Posten. Wir mussten dann unsere Waffen ablegen und konnten weiterfahren, immer Richtung Westen.

Wir hatten uns schon voller Freude ausgerechnet, dass wir mit den 200 l Benzin bis ins Ruhrgebiet kommen, wo die meisten beheimatet waren. Aber es kam anders. Nach etwa 50 krn war unsere Reise zu Ende. US-Soldaten zeigten uns den Weg und der ging in ein Gefangenenlager im großen Flugplatz von Parschim, südöstlich von Schwerin. Dieser war mit hohem Maschendraht und Stacheldrahtverhau gesichert. Wir bekamen für unsere zwei Fahrzeuge einen Platz angewiesen, wo wir kampieren konnten. Unsere einzige Arbeit bestand in der Suche nach etwas Essbarem.

Nach Tagen war unsere Truppe auf etliche 1000 Mann angewachsen und wir bekamen mittags eine dünne Wassersuppe. Nun wurde von den Amis ein guter Dolmetscher gesucht, mein Kamerad Erwin Frank meldete sich sofort. Er war jetzt den ganzen Tag mit US-Offizieren unterwegs, kam erst spät wieder zu uns ins Lager. Etwas Schokolade und Zigaretten konnte er immer mitbringen, aber sonst nichts. Doch eines Abends kam er ganz betrübt zu uns und sagte, wir müssen hier abhauen, in ein paar Tagen wird das Lager an die Russen übergeben. Und so war es auch. Er hatte schon einen Plan gemacht, wie wir herauskommen. Zwei Mann mussten nach Kiel, drei Mann nach Dusseldorf und Duisburg und zu mir sagte er: »Alois, wir beide gehen zusammen und die Amis soll der Teufel holen, wenn wir nicht durchkommen.« Die ändern drei waren aus Sachsen und wollten nicht mitgehen. Erwin sorgte dafür, dass wir am nächsten Tag zu einem Arbeitskommando eingeteilt wurden, um allen möglichen Schrott aus dem Lager wegzuschaffen. Er wusste, wo der Schrott hingefahren wurde, und so sagte er zu mir. »Du kannst da gleich am Waldrand verschwinden, pass nur auf, dass der Posten Dich nicht sieht. Dann versteckst Du Dich im Gebüsch und wenn ich heute abend komme, rufe ich dreimal Kuckuck.«

Beim ersten Verschwinden hatte mich der Posten bemerkt, schrie mich an, aber ich zeigte auf meinen Hintern und er ließ mich laufen. Als ich außer Sichtweite war, suchte ich mir einen passenden Baum aus und bin hoch in die Äste geklettert. Ich musste natürlich den ganzen Tag oben hocken bleiben, denn das Arbeitskommando kam noch ein paarmal am Tage. Abends in der Dämmerung hörte ich auf einmal den Kuckucksruf und gab Antwort. Wir hatten uns gefunden und marschierten nun zum nächsten Dorf, um in einer Scheune zu übernachten. Hier stand auch eine schöne Kutsche und Erwin sagte, damit fahren wir morgen früh los, das Pferd steht auch im Stall. Dieses Gefährt gehörte Ostflüchtlingen, die nicht mehr weiter wollten, Erwin hatte es ihnen abgehandelt und dazu noch Zivilkleider besorgt. Ja, das war schon ein toller Kamerad und ohne ihn wäre ich nie heimgekommen.

Am frühen Morgen fuhren wir los, mit etwas Verpflegung, die der alte Bauer uns mitgegeben hatte. Kritisch wurde es vor jeder Ortschaft, wo überall Kontrollen der Amis standen. Aber Erwin erzählte immer die tollsten Lügenmärchen und manche gaben uns dann sogar Schokolade und Zigaretten. Auch fuhren wir einmal mitten durch einen Wald, der voller deutscher Gefangener war. Sie winkten uns heimlich zu. denn sie wussten wohl, woher wir kamen. Am ersten Tag ging's gut voran und wir konnten auf einem Bauernhof übernachten. Am zweiten Abend waren wir in Dömitz an der Elbe, wieder auf einem Bauernhof. Die Leute waren sehr hilfreich und haben uns auch was zu essen gegeben. Aber wie jetzt mit Pferd und Kutsche über die Elbe kommen? Bis Hamburg gab es keine Brücke mehr. Einen Rat gaben uns die Einheimischen, etwa 10 km nördlich, bei Hitzacker, wären Holländer, die Leute mit einer kleinen Fähre übersetzten. Wir machten uns auf den Weg dorthin und fanden auch die Anlegestelle. Die zwei Holländer verlangten 300 RM dafür und wir beide kratzten unser letztes Geld zusammen. Die Kutsche passte noch auf die Fähre, aber unser gutes Pferd musste dahinschwimmen. Ein Holländer hielt es an der Leine fest und zum Schluss wäre es uns bald abgesoffen, denn die Elbe ist hier breit und tief. Jetzt waren wir dem sowjetischen Machtbereich entronnen, genau 14 Tage später kam der Russe bis an die Elbe. Nun fuhren wir weiter Richtung Uelzen-Lüneburger Heide. Unser braves Pferdchen hatte aber ein Hufeisen verloren und fing an zu lahmen. Uns blieb nichts anderes übrig, als es gegen ein anderes umzutauschen. In dieser Gegend waren genug Pferde auf den Koppeln und sie blieben auch in der Nacht draußen. Wir suchten uns eine Feldscheune aus, wo wir auch übernachten konnten, in der Nähe einer Koppel. Hungrig gingen wir zum nahen Kartoffelacker, buddelten die frisch gepflanzten Kartoffeln aus, um sie auf einem Feuer zu garen.

In dieser sternenklaren Nacht zogen wir mit unserem lahmen Gaul zur Koppel, suchten uns ein beschlagenes Pferd und tauschten einfach um. Beim ersten Morgengrauen sind wir schon losgezogen, um nicht entdeckt zu werden. Durch die Lüneburger Heide ging es dann Richtung Gelle - Burgdorf - Hannover. Von Burgdorf hatten wir einen Karneraden, dessen Eltern wir besuchen wollten, natürlich mit Hintergedanken. Aber soweit sollten wir mit unserem Pferd nicht kommen. Schon am zweiten Tag fing es an zu lahmen und wollte nicht mehr so richtig weiter traben. Wir entschlossen uns, das Pferd mit Kutsche auf einem Bauernhof kurz vor Celle stehen zu lassen und auf Schusters Rappen weiter zu marschieren. Es war Pfingstsamstag. Wir fragten eine Frau, die im Garten arbeitete, nach dem richtigen Weg und gaben uns als Landser zu erkennen. Sie bat uns, über die Feiertage bei ihnen zu bleiben. Ihre beiden Söhne wären gefallen und sie hätte auch einen schönen Kuchen gebacken. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und konnten uns noch einmal richtig satt essen. Am Pfingstmontag ging's Richtung Burgdorf. Gegen Abend kamen wir dort an und fanden auch das Elternhaus von Karl Kochnnek, unserem Kameraden. Er war noch nicht zu Hause, aber die Eltern waren froh, ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen. Natürlich konnten wir bei ihnen übernachten und bekamen auch zu essen.

Am anderen Morgen zogen wir weiter, an Hannover vorbei Richtung Hameln. Das Marschieren ging zwei Tage gut, aber dann bekamen wir Blasen, das Laufen wurde uns zur Qual. Nun waren in dieser Gegend die Dörfer alle voller Polen, die nur noch feierten und nichts mehr arbeiteten. Die Einwohner sagten uns, sie würden plündern und stehlen, wo sie nur könnten.

Besonders auf Fahrräder hätten sie es abgesehen - aber wir beide auch. Am vierten Tag machte es sich, dass um die Mittagszeit ein Gewitter aufzog und wir in einem leeren Bahnwärterhäuschen Schutz suchten. Zu uns gesellten sich ein Junge und ein Mädel mit Fahrrädern und stellten diese draußen ab. Es regnete in Strömen. Wir hörten an der Sprache, dass die beiden Polen waren, Erwin sagte zu mir, das ist was für uns, die Fahrräder müssen wir haben. Ich gehe raus, eigne mir ein Fahrrad an, aber da kommt der Bursche gesprungen und will mich angreifen. Doch der hatte nicht mit meinem schlagkräftigen Kameraden gerechnet, der ihm einen Kinnhaken versetzte, dass er in eine Ecke flog. Wir beide nun auf die Fahrräder und weg. Ab und zu schauten wir zurück, ob wir auch keine Verfolger hinter uns hätten. Hei, das machte Spaß, mit dem Fahrrad durch das Weserbergland zu strampeln. An diesem Nachmittag kamen wir bis in die Gegend von Hameln. Erst bei Dunkelheit suchten wir uns eine Schlafstelle in einer Scheune. Am frühen Morgen kam die Bäuerin und wollte ihr Vieh versorgen. Sie weckte uns mit großem Geschrei und lief ins Haus zu ihrem alten Vater. Wir gingen gleich hinterher und gaben uns zu erkennen. Der Frau hatten wir einen großen Schreck eingejagt, aber sie machte uns noch Gin Frühstück. Weiter ging es an dem Tag über Bad Pyrmond nach Paderborn. Hunger bekamen wir ja auch über Tage und da musste ich an den Haustüren um ein Stück Brot betteln. Mein Kamerad Erwin wäre lieber verhungert, als nur einmal betteln zu gehen. In der Nähe von Bad Driburg hatten wir wieder die Adresse eines Kameraden, wo wir übernachten konnten. Am nächsten Tag ging es durch bis nach Soest. Das war eine schöne ebene Strecke und wir konnten immer auf dem Drahtesel sitzen bleiben. Am Abend suchten wir uns am Stadtrand ein Bauernhaus, wo wir wieder in der Scheune übernachten konnten. Die Bewohner waren Mutter, zwei junge Töchter und eine alte Tante. Sie machten uns natürlich auch zu essen und wir bedankten uns mit einem bunten Abend. Ich spielte auf meiner Mundharmonika und Erwin sang dazu alte Soldatenlieder. Die Strecke von Soest über Dortmund nach Velbert, dem Heimatort von Erwin, schafften wir am nächsten Tag. Gegen Abend kamen wir bei seiner Mutter, die am Stadtrand wohnte, an

und die Freude war groß. Zuerst mussten wir natürlich ins Bad und dann frische Wäsche anziehen. Sowas hatten wir über sechs Monate nicht mehr gesehen. Ich sollte natürlich noch ein paar Tage dableiben, aber am dritten Tag bekam ich Heimweh, was ich während meiner Soldatenzeit nicht kannte. Morgen muss ich heimfahren, sagte ich zu Erwin, ich habe keine Ruhe mehr.

In den Jahren danach haben wir uns noch oft gegenseitig besucht, bis er 1952 nach Amerika ausgewandert ist. Ich hatte ihm ja so viel zu verdanken und wir waren die besten Freunde. Am frühen Morgen machte ich mich auf den Heimweg über Köln, Euskirchen, Münstereifel in die Heimat. Am Abend kam ich in Pelm, dem Heimatort meiner Braut an, die mir überglücklich um den Hals fiel. Am anderen Tag radelte ich weiter nach Densborn und konnte meine Angehörigen alle nach 18monatiger Abwesenheit gesund und glücklich wiedersehen.