Krieg und Verderben

Theo Pauly, Gerolstcin

Das Ende des unheilvollen Zweiten Weltkriegs jährt sich im Mai 1995 zum fünfzigsten Mal. Fünfzig Jahre ohne Krieg in oder um Deutschland! Solche langen friedfertigen Zeiten hat es in unserem Lande selten gegeben. Eine ganze Generation blieb vom Krieg verschont. Sie kennt ihn nur aus Berichten, aus der Literatur und dem Fernsehen.

Das bewirkt Abstand. Man ist nicht unmittelbar betroffen. Selbst der junge Mann, der heute seiner Wehrpflicht nachkommt, geht davon aus, dass er wohl doch nicht wirklich m den Kampf ziehen muss. Unsere Väter und Großväter mussten es. Zu viele sind den Soldatentod gestorben. Viele, allzu viele Alte, Frauen und Kinder wurden von Bomben zerfetzt, sind in den Flammen ihrer Häuser verbrannt, in den Luftschutzkellern jämmerlich erstickt. Viele, allzu viele verloren Heimat, Hab und Gut, wurden auf der Flucht von marodierenden Soldaten erschlagen, erschossen, vergewaltigt, verstümmelt.

Nicht nur an die fünfzig friedfertigen Jahre sollten wir uns erinnern! Mit welchen Gefühlen ein junger Mann aus der Struth seine ersten Kämpfe im Frankreichfeldzug des Zweiten Weltkrieges erlebte, soll ein überarbeiteter Bericht darlegen, den er in einem Brief an seine Angehörigen mit Datum vom zweiten Juli 1940 geschickt hatte mit der Bitte: »Bewahrt diesen Brief auf!«

Aus diesem Grunde ist er wohl auch heute noch vorhanden. Der junge Mann war im Jahre 1915 geboren, im gleichen Jahr, in dem sein Vater in Frankreich den Soldatentod starb, er selbst fiel im Januar 1942 in Russland. Auch über seinen Tod gibt es einen Bericht. Er stammt von einem seiner Schulfreunde aus einem Nachbardorf und soll ungekürzt dem Bericht des jungen Soldaten über die Kämpfe in Frankreich angefügt werden.

I. Bericht über die Kämpfe während des Frankreichfeldzuges

Am 18. 5.1941 brachen wir von Rittersdorf bei Bitburg, wo wir die vergangene Nacht gelegen

hatten, auf in Richtung Luxemburg, Belgien, Frankreich. Abends um 21.45 Uhr wurde die Luxemburger Grenze überschritten, am 20. 5. morgens die belgische, am Abend des 21. 5. marschierten wir in Frankreich ein. Schwer verstaubt, aber dennoch mit Gesang, ging es auf französischem Boden weiter, bis wir so an die tausend Kilometer heruntergerasselt hatten, natürlich von Rittersdorf aus.

Am 5 6. griffen wir in den Kampf am Aisne-Kanal ein. Dort trafen wir auf sehr starken Widerstand. Um fünf Uhr in der Frühe begann unsere Artillerie aus allen Rohren und mit allen Kalibern zu schießen. Dreißig Meter vor uns schlugen die nächsten Granaten ein. Die Kanonade dauerte eine Stunde, dann waren wir mit unseren Maschinengewehren da und ballerten los. Nachdem die Artillerie ihr Feuer vorverlegt hatte, gingen die Schützenkompanien vor und setzten im Schütze unseres MG-Feuers über den Kanal. Noch ehe die letzte Kompanie ganz drüben war, rückten wir schon nach. Am anderen Kanalufer ging es weiter, durch den Wald hoch bis zum Waldrand. Dort war es aber nicht ganz schön! Von allen Seiten bekamen wir Feuer, sogar aus den Baumkronen heraus wurden wir beschossen. Einige von uns fielen durch Kopfschüsse. Plötzlich hieß es: »Feindliche Panzerwagen!« Wir erschraken gewaltig, denn wir wussten nicht, dass unsere PAK schon da war. Wir wähnten sie noch auf dem jenseitigen Kanalufer; doch sie war im Einsatz. Als die Panzerwagen sie gewittert hatten, traten sie den Rückzug an.

Jetzt ging das Schlimmste los: Unsere Artillerie schoss in die eigenen Reihen, da wir zu schnell vorgestoßen waren. Das war ein Jammer, ein Elend! Viele Tote, und die Verwundeten schrien um Hilfe. Sie wurden über den Kanal nach hinten gebracht. Wir gruben uns mit sechzig bis achtzig Mann ein und haben die Stellung gehalten, die sonst von vier Kompanien besetzt war. Alle hatten müde, ernste, entsetzte Gesichter. Man kam sich vor - zumindest schien es so - als sei man zehn Jahre älter geworden an diesem Tag. Einer sagte zum anderen: "Wäre die Nacht gut vorbei!- Sie ist dann ganz ruhig verlaufen, wir haben hinter unserem S.M.G. gelegen und gewacht. Der Feind hatte ebenfalls schwere Verluste und war froh, sich zurückziehen zu können.

Am nächsten Morgen bekamen wir Verstärkung und es ging weiter, am Kanal entlang nach dem Dorf Kuni. Dort waren in der Nacht feindliche Truppen durch Flieger abgesetzt worden, alles Scharfschützen, die uns wieder sehr starken Widerstand entgegensetzten. Wir sind dagegen angegangen. Der Chef der zweiten Kompanie ist in diesem Kampf gefallen, zwei Unteroffiziere und zwei Gefreite, alle aus der zweiten Kompanie. Da begann unsere PAK in die Häuser zu schießen. Sie durchbrach mitunter zwei und drei Häuser mit einem Schuss. Danach haben wir kurzerhand ein Haus nach dem anderen in Brand gesteckt; es hat toll gebrannt! Wir machten fünfzig Gefangene. Ein Unteroffizier und ein Mann aus unserem Zug sind gefallen, sechs Leute und zwei S.M.G. vermisst. Am Abend wollten wir die vermissten Kameraden suchen und die S.M.G. holen. Da ließ man uns bis auf zehn Meter herankommen, und wir erhielten MG-Feuer von allen Seilen. Rumms. lagen wir im Gras! Wir waren mit dreißig Mann. Zwei S.M.G. gingen beim Weg in Stellung und feuerten zwischen uns durch auf die feindlichen MG-Nester. So konnten wir uns zurückziehen. Die einen liefen oder robbten, die anderen schössen und wir kamen alle dreißig ohne Verwundung zurück. Ein Unteroffizier meinte: »Von uns fällt keiner mehr, sonst wären wir nicht alle hier herausgekommen!« Dieser Ausspruch war wie eine Erlösung. Es war dann auch so. nachher ist von uns keiner mehr gefallen.

Dies war am 6. 6. Als es dunkel war, ging es weiter. Unterwegs machten wir Rast und lagen für drei Stunden in einem Stall. Um vier Uhr am 7. 6. ging es wieder weiter. Wir befanden uns stetig im Kampf. Aber der Feind musste doch weichen. Am 8. 6. überquerten wir die Aisne: das ging gut. Am 9. 6. machten wir mit vierzehn Mann auf einem Lkw einen Spähtrupp in ein Städtchen, wo es wieder munter zuging. Ein Zug Franzosen sollte dort liegen, es war aber eine ganze Kompanie. Da hieß es kämpfen!

Mehr möchte ich darüber nicht sagen. Der Kampf dauerte bis in den Abend. Am frühen Morgen um drei Uhr erreichten wir wieder unsere Kompanie. Am Morgen des 10. 6. hieß es: -Weiter zurück mit dem Feind!" Und wieder kämpfen!

Am 12. 6. lagen wir vor der Marne und hatten auf einem Friedhof Stellung bezogen. Bald hatte der Feind unsere Stellung erkannt, und wir wurden dort von schwerer Artillerie beschossen. Ich sah den Tod vor Augen. Der liebe Gott • hat es anders gewollt. Fünf Meter vor meiner Stellung schlugen Granaten in die Grabsteine, mehr nicht. Am jenseitigen Ufer lag der Feind eingeschanzt mit sehr starken Kräften. Da hat unsere PAK wieder geholfen. Sie setzte alle feindlichen MG's außer Gefecht. Gut, die PAK! Alle Achtung!

Am Morgen des 13.6. setzten wir über die Marne, und es ging sehr schnell weiter bis zur Seine, wo wir am 16. 6. übersetzten. Weiter ging es. Am 19. 6. erreichten wir die Loire, die wir auch mit Schlauchbooten überwanden, wie bisher alles Wasser. Dort hat sich der Feind dann aufgelöst und wir verbrachten ein paar kampflose Tage im Freien. Danach bezogen wir quartier in einem Stall und schliefen auf Stroh. Am 1. 7. - gestern - zogen wir dort aus und wurden auf Lkw in ein Lager gebracht, in dem wir sehr schön untergebracht sind. Jeder hat sein eigenes Bett.

II. Bericht über den Tod des Soldaten H.

29. 1. 42 Meine Lieben!

Recht herzliche Grüße bei guter Gesundheit sendet Euch Euer A.

Gestern traf Euer lieber Brief vom 24. Dez. hier ein. Mein letzter Brief ist vor zwei Tage abgeschickt. Während diese Briefe noch unterwegs sind, seid Ihr wohl schon von einer Nachricht überrascht worden, von der ich bis gestern abend noch nicht die geringste Ahnung hatte. Ohne weitere Umschweife kann ich Euch heute mitteilen, was mir gestern abend bekannt wurde. Hommes J. war der erste, der mir sagte, dass H. von B. gefallen ist. Auf einer Fahrt traf er einen Kameraden von H.,'der ihm von dessen Tod erzählte. Auf dieser Fahrt hatte J. auch gleich H's Grab gefunden. Das ist das, was mir Hommes J. gestern zu später Abendstunde berichten konnte. Heute morgen nun habe ich gleich die Kompanie, in der H. war, aufgesucht, um Näheres über H's Tod zu erfahren. Ich traf einen Unteroffizier, der sich in nächster Nähe befand, als H. das Opfer einer feindlichen Kugel wurde. Am 15. Januar traten wir zum Angriff auf Feodosia an. Am Morgen dieses Tages konnte ich mit H., der frisch und fröhlich wie immer mit seinen Kameraden zusammen war, noch einen kurzen Gruß wechseln. Zu einer längeren Unterhaltung mit ihm hatte ich während des Angriffs keine Zeit, Ich rief ihm im Vorbeigehen zu: "H., mach, dass wieder alles klappt!« Er antwortete: »Wollen das Beste hoffen!«. Das sollten die letzten Worte sein, die ich mit H. tauschte. Es war auch das letzte Wiedersehen mit ihm. Am folgenden Tage, beim weiteren Angriff in Richtung Feodosia morgens um 9.30 Uhr (so berichtete mir der Unteroffizier) wurde H. von der Kugel getroffen, die seinen Tod herbeiführte. Mit zwei seiner Kameraden lag er in Stellung hinter dem S.M.G. Das Geschoss, eine Infanteriekugel, ging durch die Kartentasche, die ihm am Koppel an der rechten Hüfte hing, schrägt durch den Leib zum Herzen hin.

In kürzester Zeit trat der Tod ein. Das ruhige Lächeln, das sein Gesicht während seines Lebens immer zeigte, nahm H. mit ins Jenseits. So sagte mir auch einer seiner Kameraden, den ich zudem sehr gut kenne, dass dieses Lächeln auch nicht erstorben war, als man H. zur letzten Ruhe bettete. Das Gesicht zeigte keinerlei Verzerrung, nur dass es die Totenblässe trug. Im Augenblick, wo H. fiel, war ich wohl nicht allzu weit von ihm entfernt, aber wer konnte das ahnen? H's Grab befindet sich an der Hauptstraße von Starykrim nach Feodosia, etwa auf der Hälfte der Wegstrecke, zirka acht Kilometer von Feodosia entfernt. Ich werde jede Möglichkeit suchen, dorthin zu kommen, um dort einige Aufnahmen zu machen. Schier unfaßbar wurde mir die traurige Nachricht von H's Tod. Euch wird es nicht anders sein. Schade nur, dass ich sie Euch nicht eher geben konnte, bevor die Mitteilung der Kompanie Euch erreichte. Diese hätte die Angehörigen dann nicht so überrascht, wenn eine sorgliche Vorbereitung auf diesen so überaus herben Schicksalsschlag vorangegangen wäre. Schwer hat es H's Mutter und alle anderen getroffen. Tröstet sie alle, so gut es geht! Ich sehe

all das Leid derer, die jetzt an dem Tod H's weinen, der so weit der Heimat sein junges Leben opfern musste. Wir stehen hier am Grabe des lieben Kameraden und senden mit allen in der Heimat unser Gebet für ihn zum Himmel. Das ist mir gewiss: H. ist so gestorben, wie er gelebt hat. Uns, die wir dauernd im Schatten des Todes gehen, wird der Tod am wenigsten unvorbereitet für den Gang ins Jenseits antreffen. Schmerzlich ist der Verlust für die Angehörigen.

Ein Trost für sie ist schwer zu finden. Tränen müssen fließen. Das verlangt die Natur. Ein Trost in diesem unsagbaren Leid ist nur die stille Zwiesprache mit dem, der alles in seinem Ratschluss wollte. Der Trost im Glauben an den weisen Gott, der alles zürn Besten lenkt und leitet, wird die schwergeprüften Angehörigen wieder aufrichten.

Schweren Herzens schreibe ich diesen Brief. Mit H., der stets der beste Kamerad war, habe ich in der weiten Ferne ein Stück Heimat verloren. Man sagt, dass der Krieg hart und zäh macht, aber doch treten auch mir die Tränen in die Augen. Lange kann man sich diesen Gedanken nicht hingeben. Die Pflicht zu neuer Tat,die Gott uns durch das Vaterland auferlegt hat, ruft wieder. Dieser Pflicht kann und darf man nicht ausweichen.

Ich will diesen Brief nun schließen. Sprecht auch in meinem Namen der Mutter und den Geschwistern von H. ein kleines Trostwort zu und bekundet ihnen meine stille Teilnahme an ihrem herben Schmerz. Sobald ich an H's Grab war, schreibe ich wieder. Es sendet Euch die herzlichsten Grüße aus Feodosia Euer A. 30. 1.42

Heute morgen, eben komme ich zurück. Ich war an H's Grab und habe dort einige Aufnahmen gemacht. Ich will sehen, dass ich den Film bald entwickeln lassen kann. Die Bilder, oder die Filme, werde ich Euch dann sofort schicken. Hoffentlich habe ich Glück mit den Aufnahmen. Wie ich schon sagte, befindet sich das Grab an der Hauptstraße von Starykrim nach Feodosia. etwa acht Kilometer von Feodosia entfernt. Es ist inmitten einer längeren Gräberreihe, die sich der Straße entlang zieht. Ein schlichtes Holzkreuz mit Namen, Geburtsund Sterbetag ragt über den schneebedeckten Hügel. ..