Der alte Mann und sein Pferd

Lolte Schabacker. Daun

Rien ne va plus! Nein, nichts geht mehr. Über neunzig - da ist das kein Wunder. Das Herz will nicht mehr. Man kann nur noch warten, bis die Lebenskugel zur Ruhe kommt und endlich einrastet.

Es gibt so vieles, an das man sich nicht mehr recht entsinnen kann. Die Gedanken sind wie Arbeitspferde, denen man die Zügel locker gelassen hat nach getanem Tagewerk, und nun gehen sie nach Hause. So, wie seine eigenen Pferde damals auch heimkamen, wenn es Abend wurde. Da konnten ihre menschlichen Mitarbeiter ruhig die Abkürzung durch den Bach nehmen.

Zuhause: Das ist Hof und Sägewerk in dem östlichen Land mit den riesigen Wäldern, das weit weg liegt, weit weg auch in der Zeit; Heimat, die es nur noch in seiner Vorstellung gibt. Und fast immer, wenn der alte Mann an sein fernes Zuhause denkt, stellt sich das eine Bild ein: Er steht, wie so oft damals, auf dem freien Platz vor seinem Anwesen und sieht zum nahen Waldrand auf, lauscht auf das noch ferne Schleifen und Knarren der Achsen und Räder, die die schweren Stämme tragen, und ohne es eigentlich zu hören, nimmt er das Stampfen der Pferdehufe auf dem elastischen Waldboden wahr. Dann, nach einiger Zeit, treten sie aus der Schneise, seine Pferde, groß und kräftig alle vier, am gewaltigsten aber Rex vorne rechts. Sie gehen langsam, mit gesenkten Köpfen, sie ziehen mit aller Kraft. Und wie immer an dieser Stelle, wenn sie endlich die grüne Dämmerung des Waldes hinter sich haben, wirft Rex den Kopf zurück, so dass für einen Augenblick die zackige Mähne wie eine gelbe Flamme gegen den Abendhimmel steht. .. Was Rex ihm wirklich bedeutet hatte, merkte er erst, als es mit ihm zu Ende ging, als aus dem prächtigen Arbeitskameraden ein armer, alter Gaul wurde. Es kam ganz schnell. Weit über die Zeit, die einem Pferdeleben zusteht, war Rex kräftig gewesen, hatte nicht nachgelassen bei der Arbeit. Dann wurde er krank. Nichts von Bedeutung, so schien es, eine Erkältung wohl. Aber einmal aus dem Trott gekommen, konnte er sich nicht mehr erholen. Ein paar mal noch ließ man ihn vorm Pflug gehen, um ihm Bewegung zu verschaffen, dann war auch das aus. Nie würde er den Tag vergessen, an dem er das großartigste Pferd, das er je besessen hatte, zum ersten Mal aus dem Stall führte zum endgültigen Nichtstun, und seine Trauer galt nicht der verlorenen Arbeitskraft - längst stand schon Ersatz im Stall - sie galt dem alten Gefährten selbst, der von nun an auf der Weide herumstehen und vergeblich warten würde, dass man ihn noch einmal brauchte. Nie zuvor hatte er so bitter empfunden, dass ein Leben mit Pferden ein Abschied ohne Ende ist, da ihre Lebensuhr schneller abläuft als die der Menschen - und dass man ihnen nichts erklären kann. "Für mich bist und bleibst du das schönste und stolzeste Pferd auf dieser Welt!", hätte er ihm gern gesagt. Und: -Alt werden wir alle einmal, auch ich, es dauert gar nicht mehr lange." Vielleicht hatte Rex diese Gedanken doch gefühlt, denn nie hatte er ihm so unverblümt seine Anhänglichkeit gezeigt wie in der nun folgenden Zeit. Alleingelassen auf der Weide rührte sich das alte Tier kaum von der Stelle. Wer immer es voller Fürsorge dazu bringen wollte, umherzugehen, damit seine Beine nicht völlig steif wurden, musste Zwang anwenden. Nur mit ihm, seinem Herrn, ging es freiwillig. So nahm er sich denn, obgleich in Hof und Sägewerk die Arbeit drängte, jeden Abend diese eine Stunde, um mit dem alten Freund über Land zu wandern. Und jedes mal an dem großen Haferfeld sagte er zu ihm: »Siehst du, das ist dein Futter für den nächsten Winter, das wird dir gut schmecken!« Diesmal war er froh, dass Rex die Worte nicht verstand, denn er wusste, dass sie eine Lüge waren.

Und dann war es soweit. Lange schon hatte Rex sich im Stall nicht mehr hingelegt. Und als er es dann doch tat, an einem trüben Herbstabend, stand er nicht mehr auf. »Überlass' es dem Tierarzt!" hatte der Neffe geraten. Und er war nahe daran gewesen, nachzugeben, zu kneifen. Aber dann hatte er es doch selbst getan. Es war. so schien ihm, der düsterste Tag seines Lebens. - Nein, nein, so durfte er nicht denken. Da war noch die Stunde, als die Frau starb; und die, die die Nachricht brachte, der Sohn und Hoferbe sei in Russland gefallen. Darüber hatte die Zeit allmählich einen Schleier gebreitet. Dieser Augenblick aber, der letzte mit Rex, war in sein Gedächtnis eingebrannt wie mit Säure; als er neben ihm hockte und sprach und sprach. Und auch hinterher, als schon alles vorüber war, hatte er immer noch zu ihm gesprochen. »Ich komme nach", hatte er wieder und wieder gesagt, »du kannst dich darauf verlassen, ich komme nach, eines Tages . ..«

In der Tat wird ja kein Versprechen auf dieser Welt sicherer gehalten als das, auch gelegentlich zu sterben. Und jetzt ist es bald so weit. Das Herz! Da stimmt was nicht, er fühlt es immer deutlicher. Ob Rex wohl ungeduldig gewesen ist beim Warten? Ach wo, wieso denn? Die Ewigkeit ist lang . ..

Als die Angehörigen ihn am nächsten Morgen tot in seinem Bett fanden, waren sie bestürzt und traurig, das sie in seiner letzten Stunde nicht bei ihm waren. Aber dann stellte man fest, dass er gar nicht aussah wie einer, der sich allein gefühlt hat. Es war, als ob er ein wenig lächelte.