Nordlicht über Daun

Heinz Reuter, Bodenbach

Unser Freundeskreis hatte beschlossen, wieder einmal ein verlängertes Wochenende in der Eitel zu verbringen. Das Frühlingswetter hätte nicht besser sein können und die Zeichen für ein schönes Pfingstfest, das wir für unsere kleine Eifelfahrt vorgesehen hatten, standen gut. Die Bezeichnung "Freundeskreis« war eine Tarnung. Wir waren alle in der katholischen Jugendbewegung aktiv gewesen, bis die Hitlerregierung die Bünde verbot und auflöste. Wir ließen uns weder von diesem Verbot noch von gelegentlichen HJ-Schikanen abschrecken, sondern hielten untereinander Kontakt, eben als Freundeskreis, ein gutes halbes Dutzend junger Leute zwischen 20 und 25 Jahren und inzwischen im Studium und in der Berufsausbildung. Einige waren im Wehrdienst, den Hitler 1935 wieder eingeführt hatte, oder hatten ihn bereits hinter sich und bereiteten sich auf die Abschlussprüfungen vor. Am Freitag vor Pfingsten fuhren wir also mit der Bahn von Bonn über Remagen und Mayen nach Daun, das wir von vielen Wanderfahrten her gut kannten und vor allem wegen der Maare und der geologischen Besonderheiten sehr liebten. Einer von uns hatte dort einen für damalige Verhältnisse wohlhabenden Onkel, der immer bereit war, uns in seinem geräumigen Anwesen unterzubringen und gut zu versorgen, denn Studenten und Berufsanfänger konnten und können sich weder ein Hotel noch eine Pension leisten.

Für die Nacht zum Pfingstsonntag hatten wir eine Nachtwanderung nach Himmerod geplant. Der uns von manchen Besuchen her gut bekannte und wohlgesonnene Gastpater der Abtei hatte mit seiner Zusage auf unsere Voranmeldung auch ein gutes Frühstück in Aussicht gestellt, damit nicht etwa knurrende Mägen beim festlichen Pontifikalamt des Abtes störend auffielen.

Nach Sonnenuntergang machten wir uns also guten Mutes auf den Weg, machten sogar einen Umweg am Weinfelder Maar vorbei mit dem - und vor allem mit dem alten Kirchlein - wir uns durch viele schöne Erinnerungen besonders verbunden fühlten. Wir schlugen dann den Weg über Üdersdorf und Bleckhausen nach Manderscheid ein. Ein Stück weiter, zur Rechten den Mosenberg, legten wir eine längere Pause ein und widmeten uns den von Daun mitgebrachten Schinkenbrötchen. Der Nachthimmel war sternenklar, der Mond schon früh untergegangen. Plötzlich machte unser »Senior« - er war immerhin schon 26 Jahre alt - auf eine merkwürdige Lichterscheinung am nördlichen Himmel, etwa über Daun, aufmerksam, die sich immer mehr auch nach Westen hin ausdehnte und sich zu einem herrlichen Spiel von Farbwellen entfaltete, die sich wie auf- und abwallende Vorhänge auseinander zogen. Wir waren fasziniert. Das sei ganz eindeutig ein Nordlicht, erklärte Hans, der von einer Nordlandreise mit seinen Eltern dieses Naturschauspiel kannte und auch mit wissenschaftlicher Begründung zu erläutern verstand. Für unsere geographischen Breiten sei das äußerst selten und daher im Volksmund mit allerlei Deutungen und abergläubischen Vorhersagen verbunden. Nach geraumer Zeit verblasste die himmlische Farbensymphonie und wir setzten unseren Weg fort, hinab in das Liesertal und auf der anderen Seite den serpentinenartigen Pfad wieder hinauf.

In Himmerod war das Frühoffizium gerade beendet, als wir an der Klosterpforte schellten. Die Kirche war damals noch Ruine, die Gottesdienste fanden in einem großen Saal im rechten Seitenflügel der Abtei statt. Dass gut zwei Jahrzehnte später die Kirche wieder in alter Schönheit erstehen würde, ahnte zu dieser Zeit noch niemand, auch nicht im Kloster. Unser Freund, der Gastpater, hatte bereits das Frühstück für uns angerichtet; noch kuhwarme Milch und kräftiges Klosterbrot mit Käse und Eiern. Als wir ihm vom Nordlichterlebnis berichteten, erzählte er uns, er habe als Junge kurz vor dem Ersten Weltkrieg das gleiche gesehen. Der Großvater, als er ihm begeistert davon erzählte, habe ihn belehrt, das sei ein Nordlicht gewesen und bedeute gewiss nichts Gutes. Wenige Wochen später sei der Erste Weltkrieg ausgebrochen.

Unser Eifelkurzurlaub war bald zu Ende und wir saßen wieder hinter unseren Büchern. Am 1. September des gleichen Jahres löste Hitler den Zweiten Weltkrieg aus. Unser Freundeskreis wurde für Jahre in alle Winde zerstreut, nicht alle haben die Eitel wiedergesehen. Drei Jahre später - der Krieg erreichte mit der Katastrophe von Stalingrad seinen Höhepunkt - fuhr ich von der Front nach einer Operation in Genesungsurlaub. Der Urlauberzug hatte bereits Reichsgebiet erreicht, als er in der Nacht plötzlich auf freier Strecke stehen blieb. Draußen tasteten Scheinwerferden Himmel ab, die Leuchtspurgeschosse der Flak und die zerplatzenden Granaten galten einfliegenden feindlichen Bombern. Wir standen im Freien, um uns bei Beschuss hinter dem Bahndamm in Deckung bringen zu können, und sahen dem schaurigen Schauspiel zu. Ich musste unwillkürlich an das Nordlicht über Daun denken. Hier erlebte ich das tödliche Gegenstück dazu.