Der Medizinalrat

Lotte Schahacker. Daun

Frau Schulte, meine alle Nachbarin, hatte Mühe, Kleingedrucktes zu lesen und bat mich deshalb, ihr beim Aufräumen ihres überquellenden Medikamentenschränkchens zu helfen. Was da nicht alles ans Tageslicht kam: Salben, Tinkturen, deren Verfalldaten längst überschritten waren, Tabletten und Reste von Arzneien, von denen sie gar nicht mehr wußte, von wem, wann und warum sie ihr verschrieben wurden. Am Ende der Aktion überragte der Abfallberg den immerhin noch beachtlichen Hügel an brauchbaren Medikamenten. Frau Schulte betrachtete nachdenklich den Erfolg unserer Bemühung. »Wenn ich so bedenke, was die kleine Schachtel in Mutters Kommode enthielt: Verbandsmull, Pflaster, Jod, Brandsalbe, Vaseline, später auch Aspirin. Mehr fällt mir nicht ein", sagte sie, »und ich kann mich auch nicht entsinnen, daß ich in meiner Kindheit und Jugend je von einem anderen Arzt behandelt wurde, als vom Medizinalrat Dr. Karst. In ihm steckten alle denkbaren Spezialisten, die wir heute haben. Er war eben der Hausarzt von früher, der aus dem vorigen Jahrhundert. Zum Zahnarzt und Chirurgen fehlte ihm zwar die Ausstattung, dafür besaß er einen Röntgenapparat, meines Wissens den einzigen damals in unserer Stadt in einer Privatpraxis, Das Ding war groß wie ein Gabelstapler, sprühte Funken und machte bei der Arbeit einen unglaublichen Lärm. Jedoch stellte es Diagnosen, die der Doktor deuten konnte. Dr. Karst behandelte mich nicht nur, er verwaltete mich auch. Ohne ihn säße ich jetzt nicht hier.. .

Das wollte ich gern etwas genauer wissen und fragte nach.

So kam Frau Schulte ins Plaudern: "Also der Medizinalrat! Klein war er, mager, hässlich, kratzbürstig und kurz angebunden. Und eine Seele von Mensch. Bei trockenem Wetter machte er seine Patienten besuche mit einer Kutsche, bei Regen mit einem uralten Fahrrad, damit sein geliebtes Pferd nicht nass würde, hieß es. - Den Reichen nahm er für seine Dienste so viel Geld ab, dass er die Armen gratis behandeln konnte. Anblaffen tat er sie bei Bedarf alle, Reiche wie Arme, aber der Sage nach ist ihm nie ein Patient davongelaufen. Später dann wurde er freundlicher und lächelte auch mal. Das war, nachdem er sich eine Geliebte angeschafft hatte. Eine solche Affäre kam damals gleich hinterm Raubmord, aber noch nicht mal meine Mutter nahm sie ihm übel. Die Frau Medizinalrat war gar so hochnäsig. Sie hatte ein nobles Haus und viel Geld mit in die Ehe gebracht, aber kein bisschen Sonne. Von meinem ersten Treffen mit ihm erzählte mir die Mutter.

Er war schon längst nicht mehr der Jüngste, als er mich auf die Welt beförderte. Mitten im Ersten Weltkrieg, ohne Hebamme: die war wohl gerade anderswo beschäftigt. Da ich nicht schrie, wie sich das beim Eintritt in die frische Luft gehört, versohlte er mir den Po. Ich brüllte dann zwar, hörte aber nicht mehr damit auf. Als ihm das zu bunt wurde, wiederholte er die Prozedur bis ich still war.

Das war seine zweite Tracht Prügel, aber nicht die letzte. Doch davon gleich. Erst mal bekam ich im Alter von sechs Monaten einen schlimmen Brechdurchfall, einen von der Art, an dem damals viele Kinder starben. Mir rettete der Doktor das Leben. Wie er das gemacht habe, fragte ich später die Mutter. Das wisse sie auch nicht so recht. Er kam jeden Tag, sah mich streng an und strich mir über die Stirn. Dann träufelte er mir Tropfen einer selbstgebrauten Flüssigkeit ein und ermahnte die Mutter immer wieder, seine Diät Vorschriften zu befolgen. Und dann war ich eines Tages wieder gesund. Sela!

Später bekam ich außer den üblichen Kinderkrankheiten zu seinem Ärger immer mal wieder die Grippe. Die behandelte er mit Bett und Thermometer.

Das Kind hat aber solch hohes Fieber, jammerte die Mutter. Fieber muss sein, knurrte er. Wenn es über 40 Grad steigt, machen Sie kalte Wadenwickel. Schluss! - War die Temperatur wieder konstant normal, musste ich noch drei Tage im Bett bleiben und wurde erst dann auf die Menschheit losgelassen. Wie Sie sehen, habe ich alle Grippen überlebt. Eines Tages ging mein Großvater mit mir zu Dr. Karsts Sprechstunde. Warum, weiß ich nicht mehr. Aber dort sollte ich etwas tun, was ich nicht wollte. Ich brüllte. Opa versuchte, mich zu beschwichtigen, was ihm nicht gelang. Da schmiss der Doktor seinen Altersgenossen kurzerhand raus, verdrosch mir den Po, bis ich still war und waltete dann seines Amtes. So ganz zufrieden muss er wohl mit meinem Gesundheitszustand nicht gewesen sein, denn er verordnete mir streng Lebertran, den echten! Wenn ich in dem Moment schon gewusst hätte, wie der schmeckt, hätte ich gewiss wieder gebrüllt, lauter als je zuvor. Und ohne Pause. Die Sache mit der Ziege war schon viel besser. Das Kind müsse Ziegenmilch trinken, befahl der Doktor um etwa diese Zeit. Da das Grundstück um unser Haus genügend Platz für einen Stall bot, wurde also nach dessen Fertigstellung eine Ziege beschafft. Sie gab Milch gleich für die ganze Familie. Meine Leute behaupteten standhaft, sie schmecke gut. Mir schmeckte sie wirklich, und als ich dann später auf Kuhmilch umsteigen sollte, fand ich die ekelhaft. Ich mag sie heute noch nicht pur. Ab und zu bekam unsere Ziege reizende, kleine Zicklein. Die ließ der Doktor dann, obgleich ich heulte (in diesen Fällen verdrosch er mich nicht), an seine bäuerlichen Patienten verteilen und von ihnen großziehen. Damit auch andere Kinder in den Genuss dieser "Medizin« kämen. Er schwor halt auf Ziegenmilch. Und er liebte Kinder.

Für einige Jahre kam ich also mit Lebertran und Ziegenmilch gesundheitlich ganz gut über die Runden. Doch dann kam der Tag, an dem mich der Doktor wieder streng ansah. Eigentlich war er meiner erkrankten Mutter wegen gekommen.

Er gab sich jedoch nicht lange mit ihr ab, sondern herrschte mich an: Oberkörper freimachen! Ich war inzwischen zwölf und hatte das Brüllen aufgegeben, zog mich aus, und er horchte und klopfte an mir herum. Dann befahl er mich für den nächsten Tag in seine Sprechstunde. Zur Röntgen Untersuchung. Sie verlief so spektakulär, wie ich gehofft hatte. Doch der Doktor sagte nur: "Ich werde heute abend noch deine Eltern besuchen, ich muss eh in die Gegend." Er kam auch und fiel mit der Tür ins Haus: Tuberkulose! Wie sie Kinder in diesem Alter öfter hätten. Noch nicht weit fortgeschritten, aber das Kind müsse an die See. Zwei bis drei Monate. Die Mutter war sparsam und gläubig. In welcher Reihenfolge weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls wollte sie wissen, ob es keine andere Möglichkeit der Heilung gäbe, hier zu Hause. So Gott wolle, könne er das Kind auch hier gesunden lassen.

Ja, die gäbe es, sagte der Doktor. Dann müsse die Kleine drei Monate in der Laube hinten im Garten leben, von morgens bis abends, bei Wind und Wetter, ohne Unterbrechung. Mit einer besonderen Diät und sorgfältigem Fiebermessen. Ob sie, die Mutter, das auf sich nehmen wolle? Ja, sagte sie. Das sieht Ihnen ähnlich, sagte der Doktor. Er war auch sparsam. Vielleicht war er ja sogar gläubig. Und zum Glück hatten wir gerade Sommer. Diese Laubenzeit war für mich recht lustig. Den Schul-Lehrstoff bekam ich jeden Tag geliefert, und Vater, Mutter oder Opa - wer gerade Zeit hatte - halfen mir beim Lernen, Oder sie spielten mit mir »Mensch ärgere dich nicht". Das Essen war köstlich. Ich musste nicht mehr Treppe, Nähmaschine und Wasserhähne putzen. Die Nachbarn, denen die angrenzenden Gärten gehörten, unterbrachen oft ihre Arbeit und plauderten mit mir. Immer wieder kam der Doktor zu den ausgefallensten Zeiten und kontrollierte mich und mein Laubenidyll. Ich war jetzt halt wer! Und nach der von ihm vorausgesagten Zeit war ich wieder gesund- Eigentlich schade, fand ich. Ich blieb in der Schule noch nicht mal sitzen.

Aber der Doktor hielt mich nicht nur am Leben, er griff auch in selbiges ein. Meine Leute stammten aus Deutschlands Osten, und da war es damals noch Brauch, dass Eltern sich frühzeitig nach einem Ehepartner für ihre Kinder umsahen. Häufig innerhalb der Sippe - da blieb das Geld beisammen. So wurde eines Tages bei einem Verwandten besuch beschlossen, dass der Hans, mein Vetter zweiten Grades, mich heiraten sollte, später. Ich war erst sechzehn und er zweiundzwanzig. Ich mochte den Hans recht gern, er war hübsch und besaß ein Segelboot. Aber die Mutter hatte mit ihm nicht gar so viel im Sinn, weit er stets weiße Hosen trug und von allen Süßspeisen nur Schokoladenpudding aß. Er sei verzogen, meinte sie. Dennoch hielt sie sich draus; sie wollte Hans' Vater, den sie innig liebte und der diesen Heiratsplan ausgeheckt hatte, nicht kränken. Doch kurz nach der Heimreise der pommerschen Verwandten machte sie ihren Gallenstein mobil oder zog sich heftige Kopfschmerzen zu, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls suchte sie unseren Doktor auf. Als sie nach Hause kam, war das Leiden, welches auch immer, weg.

Aus der Heirat würde nichts, verkündete sie zufrieden. Der um Rat gefragte Doktor habe sie strikt verboten, da meine Eltern, also sie und der Papi, auch miteinander verwandt wären. Um zwei Ecken, aber immerhin. Das gäbe ja gleich doppelte Inzucht. »Kommt nicht in Frage!" hat er gesagt Frau Schulte lächelte mich vergnügt an. -Sehen Sie, wenn ich Hans' Frau geworden wäre, dann hätte ich nach Stargard ziehen müssen, wo er wohnte und seinen Beruf hatte. Wer weiß, wo ich dann jetzt wäre. Jedenfalls nicht hier mit Ihnen in diesem Haus in meiner geliebten Hocheifel.«