Kriegsgefangene im Lager Lammersdorf

Peter Jakobs, Simmern

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien, Luxemburg und Frankreich in der Nacht vom 9. zum 10. Mai 1940 kamen wenige Wochen später die ersten Kriegsgefangenen aus Frankreich in den Kreis Dann und zu uns nach Niederbettingen.

In der alten Mühle von Landenberg wurde ein Lager eingerichtet, in dem sich die Gefangenen allabendlich einzufinden hatten. Tagsüber arbeiteten die Franzosen in der Landwirtschaft, vornehmlich bei Familien, deren Männer und Söhne zur Wehrmacht einberufen waren. Schon nach kurzer Zeit erwies sich das Niederbettinger Lager als unsicher, waren doch zur Nachtzeit einige Franzosen auf und davon, nachdem sie einen Boden durchbohrt hatten und nach unten ausgestiegen und ins Freie gelangt waren. Der Ausbruch wurde erst bemerkt, als die Flüchtigen über alle Berge waren. Auf der Suche nach einer sicheren Unterkunft stieß man auf den Tanzsaal Utters in Lammersdorf und richtete dort das STALAG LAMMERSDORF ein. Dieses Lager bestand bis zum Näherrücken der Westfront im Herbst/Winter 1944. Dann kam die Verlegung in Richtung Rhein. Unterwegs war der Transport mehrmals Tieffliegerangriffen ausgesetzt. Ernährungsprobleme gab es bei den Gefangenen nicht. Beköstigt wurden sie in den Familien, in denen sie arbeiteten und diesbezüglich ging es ihnen nicht schlechter als den übrigen

Familienangehörigen. Einer dieser Gefangenen war Raymond Minier aus Pithiviers. Von zu Hause Heizer, arbeitete er in Dohm in der Landwirtschaft bei Familie Schreiner, deren beide Söhne im Felde standen, wobei Heinrich bei Stalingrad vermisst blieb. Der Zufall wollte es, dass ich ab Frühjahr 1943 in jenem Haus das damals obligatorische "Pflichtjahr" ableisten musste und so Raymond kennen und schätzen lernte. Von der Lagerleitung wurde die Bevölkerung immer wieder ermahnt, im Umgang mit den Franzosen Distanz zu bewahren und beim Gespräch sich auf das Allernotwendigste zu beschränken.

So war es streng verboten, Gefangene in einer Tischgemeinschaft mit den Familien zusammen zu beköstigen. Das Einhalten dieser Vorschrift wurde weniger durch das Wachpersonal des Lagers als durch Parteifunktionäre überwacht. Obwohl in den meisten Familien die Franzosen das gleiche Essen bekamen wie die übrigen Familienangehörigen, wurde ihnen in aller Regel der Tisch in der Küche gedeckt, während zur gleichen Zeit die Familie in der Stube gegessen hat. So auch im Hause Schreiner in Dohm mit dem feinen Unterschied, dass ich mich stets zum Gefangenen in die Küche zum Essen gesellt habe. Dies wurde von Raymond sehr hoch bewertet, man konnte es ihm anmerken.

Französische Kriegsgefangene des »Stalag Lammersdorf^ daneben deutsche Wachposten

Der Tagesablauf wiederholte sich ständig: Morgens gegen 7.00 Uhr wurden die Gefangenen geschlossen von Wachposten begleitet zu den einzelnen Betrieben in Lammersdorf, Dohm, Bewingen, Niederbettingen und Bolsdorf gebracht. In der Regel mussten alle wieder gegen 19.00 Uhr im Lager Lammersdorf sein. Da vornehmlich im Sommer in den einzelnen Betrieben die Arbeiten zu unterschiedlichen Zeiten endeten, mussten die Gefangenen, begleitet von einer Person des jeweiligen Betriebes, einzeln nach Lammersdorf gebracht werden.

In der Regel war der Sonntagmittag arbeitsfrei. Jeder Franzose durfte im Monat zwei Pakete empfangen, eins von seinen Angehörigen und eins vom französischen Roten Kreuz. Große Freude herrschte jeweils am Tage des Paketeingangs, kamen doch hier noch Sachen und Kostbarkeiten, die wir Deutsche nicht mehr kannten. Die Ursache lag zum Teil darin, daß Frankreich damals noch aus den Kolonien versorgt wurde.

Familie Schreiner hatte die Poststelle, die Dohm und Lammersdorf versorgte. So konnte ich Raymond oft durch Inaugenscheinnahme berichten, dass Paketpost für ihn da sei; er selbst durfte nicht ins Postzimmer gehen. Für diesen Tag war dann die Stimmung gerettet. Das Verhältnis der Franzosen untereinander war gut, jeder hatte einen oder mehrere Freunde, die ständig den Inhalt der Pakete miteinander teilten.

Oft ersetzten die Gefangenen bei ihren Familien den Hausherrn, der irgendwo im Felde war. Die meisten waren handwerklich begabt und auch sehr willig, so dass sich ein Vertrauensverhältnis entwickelte. Ein Fall war mir damals bekannt, in dem der Franzose in der Stube am Radio englische Sender hören durfte. Das Resultat bekam ich fast täglich über Raymond zu hören.

Es gab auch Fluchtversuche - ein Fall ist mir noch in starker Erinnerung. Das Mutterland Frankreich war von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Den Gefangenen wurde immer wieder gesagt, dass eine Flucht zwecklos sei, da sie von der deutschen Besatzung in Frankreich doch wieder aufgegriffen würden und nach jeder Flucht die Grenze geschlossen wurde.

Zwei Gefangene riskierten es trotzdem. Um aber der vermeintlichen Grenzschließung einen Streich zu spielen, kampierten sie noch mehrere Tage am Wald hinter dem Dohmer Bahnhof und wurden dort von Einheimischen mit Nahrungsmitteln versorgt, um dann die große Wanderschaft anzutreten. Die Flucht ist geglückt. Noch im Krieg erfuhren wir, dass sie gut angekommen sind. Auch unser Gefangener Raymond kam nach den Wirren 1945 gut in seine Heimatstadt Pithiviers. Ich hatte mir die Anschrift eingeprägt, und nach Aufnahme der Postverbindung nach dem Zusammenbruch Ende 1945 machte ich den Versuch, eine Verbindung aufzunehmen. Es dauerte zwar wesentlich länger als heute, aber die Verbindung kam zustande und riss nicht mehr ab bis zum Jahre 1993, in dem mein Freund Raymond in einem Altersheim seiner Heimatstadt starb. Viele hundert Briefe gingen in dieser Zeit hin und her. Für mich war dieser überaus lebhafte und freundliche Kontakt der Beweis, dass der damalige Hitlerjunge den Kriegsgefangenen stets ordentlich und gut behandelt hat.