Späte Laudatio an (m)einen Lehrer

Marianne Schonberg. Jünkerath

Einschulung in den ersten Kriegsjahren - In der großen Aula lümmelten sich so viele Kinder, vier Klassen mussten gebildet werden und um die Sache für uns spannend zu machen, durften wir unseren Lehrer aussuchen. So sagte der Schulleiter und präsentierte vor uns - ein wenig erhöhl - junge, sympathische Leute.

Dazwischen war einer mit weißem Haar, Brille, dem gütigen Blick des Großvaters. Nein, den wollten wir auf gar keinen Fall, den Alten. Die anderen Kinder wollten ihn aber auch nicht und bei der (Aus)wahl blieb er übrig; wir bekamen ihn.

Kläss hieß er. Benno Kläss. Für uns war er PAPA KLÄSS und das fanden wir noch geschmeichelt. Was sollte DER uns nun beibringen? So einen jungen, sportlichen Typ hätten wir gern als Lehrer gehabt, einen, dem man ansieht, dass er Spaße macht und fröhlich ist - wir suchten Vaterersatz, aber das wussten wir nicht. Die Väter fast aller Erstklässler waren an der Front, die Mütter arbeiteten in den Fabriken, es gab kein »Zuhause" und für Kinder in diesem Alter ist das sehr schlimm. Der Alltag bot schon für Sechsjährige einen Rhythmus, der ihnen nicht zukam. Spielen sollten und wollten sie, erzählen, sich mitteilen. Sie bekamen den Haustürschlüssel um den Hals, jeden Morgen die gleiche ernsthafte Ermahnung, nach dem Schulbesuch Betten zu machen, einzukaufen, Kartoffeln zu schälen und Schulaufgaben zu erledigen. Wenn Mutter von der Arbeit kommt, will sie kochen und dann eben die Aufgaben nachsehen - oft wurde es spät abends, bis das geschah und manch kindliche Hausarbeit ging in der Müdigkeit unter. Ich erinnere mich, Mutter hat mich ab und an wieder aus dem Bett geholt und nacharbeiten lassen.

In diese trostlose Situation wurde uns PAPA KLÄSS beschert. Er war DAS Geschenk für uns Kinder, bald merkten wir, was der gütige Mann für uns bedeutete. Freundlich war er, geduldig, auch schon mal nachsichtig; doch Strafarbeiten wurden aufgegeben, wenn's mit der Hausarbeit nicht klappte und er sah sie nach, pünktlich, wir wussten das. In drei Jahren - so lange war er unser Klassenlehrer - hat er kein Kind mit dem Rohrstock geschlagen, obwohl das üblich war. Die Aufnahmeprüfung zur weiterführenden Schule bestanden alle, die sich stark genug fühlten. "Du kannst das schon«, ermunterte er uns, als wir mit hochroten Köpfen über den Fragebogen saßen, -bleib nur schön ruhig und denk nach, na, wo geht's denn da nicht weiter. .. ?« So etwas ist Balsam für eine aufgeregte Kinderseele. Ich ging auf die ANDERE Schule und hab in den Kriegswirren Papa Kläss aus den Augen verloren. Ein Stadtteil nach dem ändern brannte in den Bombennächten ab, Schüler wurden wie Stückgut verschoben, mal hierhin, mal dahin; Klassenlehrer wurden zur schönen Erinnerung - es waren laute, unbarmherzige Jahre.

Doch, ich dachte schon damals oft an Papa Kläss und viel später fiel mir auf, dass er uns in einer Zeit, da es an keiner Schule Religionsunterricht gab, diesen »unter der Hand« vermittelte. Nicht als Schulstunde, aber irgendwann flöchte er beim Lesen Geschichten ein, erzählte von einem Manne namens Jesus in einem ganz fernen Land. Der kümmerte sich besonders um Arme, Kranke, Ausgestoßene ...; das hat mich sehr beeindruckt.

In den Hausaufgaben wurde dieses Thema nie erwähnt, auch mit den Schulfreundinnen sprachen wir selten darüber - zu der Zeit war das nicht IN, da galt ein anderer Spruch und der hieß ... gelobt sei, was hart macht. Den mochte ich nicht, hart wollte ich nie sein, ich suchte Geborgenheit, Menschen, mit denen ich reden konnte, die mir zuhörten, eben DA waren.

Und sowas gab's nicht, weder für mich noch für andere Kinder unserer Generation im Lebensbereich der Kriegsjahre; Papa Kläss hat das gewusst.

Wenn ich heute nachrechne, kam er aus Mangel an jungen Pädagogen noch mal in Dienst. Er war nicht jung genug für die Front, nicht alt genug zur Pensionierung. Was ich nie vergesse - einmal sagte er so ganz nebenbei zwischen Lesestück und Diktat . . . »Kinder, wenn ihr mal ganz traurig seid und könnt das niemanden erzählen, schreibt's auf. Es wird euch danach gleich viel besser sein.« Für mich war dieser Satz Lebenshilfe.

Wann ich die Anregung umsetzte, weiß ich nicht mehr. Aber sie war und ist mir unglaublich wichtig.