Martha und Louise

SusannTheisen (MSS 11)

Martha fühlte sich sofort besser. Irgendwie fiel alle Spannung von ihr ab, sobald sie den Friedhof betrat. Sowieso war er der einzige Ort in dieser verdammten Stadt, an dem man seine Ruhe hatte. Es war, als wäre aller Trubel und Lärm gestorben und unter den Ästen der alten Eichen begraben.

Martha schloss die Friedhofspforte hinter sich und schlenderte zu ihrer Lieblingsbank. Sie lag einem Grab gegenüber, auf dem eine weiße Statue stand. Sie war zwar sehr klein, aber mit so unendlicher Sorgfalt angefertigt, dass man meinte, auch nach stundenlanger Betrachtung noch Einzelheiten übersehen zu haben. Martha setzte sich also und gab sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hin: der intensiven Betrachtung. Sie war so darin versunken, dass sie die alte Dame, die sich neben sie setzte, gar nicht bemerkte. Erst als eine Stimme sie fragte: "Na, Lust* auf ein Karamelbonbon?", wurde sie jäh aus ihren Gedanken geschreckt. Sie drehte sich zur Seite und sah in das rotbackige Gesicht einer alten Frau, die ihr mit freundlichem Lächeln eine Papiertüte voller brauner Bonbons entgegenhielt.

Martha war entrüstet. Was fiel der bloß ein, sich neben sie auf die Bank zu setzen?! Da waren doch noch jede Menge anderer Bänke - und alle leer! Konnte die nicht woanders hingehen und sie in Ruhe lassen? Aber daran dachte die alte Dame überhaupt nicht. Sie sagte statt dessen bloß: -Ich heiße Louise. Mochtest Du ein Karamelbonbon?«

Martha hatte wirklich keine Lust, ein Gespräch zu beginnen, entgegnete deshalb kurz angebunden: »Nein, danke!« und drehte sich demonstrativ von der Dame weg, der Statue zu. Aber wieder wurde sie von einer Frage unterbrochen: »Möchtest Du wirklich keines? Du siehst so traurig aus. Ich esse immer Karamelbonbons, wenn ich Kummer habe. Das hilft!" »Nein, danke. Ich habe weder Kummer, noch möchte ich eines Ihrer Bonbons! Vielen Dank«.schnauzte Martha genervt und überlegte, ob sie sich nicht woanders hinsetzen sollte. Aber schließlich entschied sie sich, sitzen zubleiben, weil sie ja auch als erste da gewesen war. Sollte die Alte doch verschwinden!

Aber die überhörte die Unfreundlichkeit in der Stimme des Mädchens und behielt ihren Platz. »Warum sitzt Du denn hier ganz alleine?" fragte sie. "Um allein zu sein!« »Oh ja, dieses Bedürfnis kenne ich genau. Deshalb komme ich auch oft hierher. Oder, um Leute zu treffen. Ich finde, die angenehmsten Leute trifft man auf dem Friedhof". "Ja, solange sie unter der Erde liegen und schweigen!» Als Martha das gesagt hatte, fing die alte Dame auf einmal so an zu lachen, dass ihre roten Backen noch röter wurden und ihre Augen tränten. Martha verstand die Heiterkeit nicht. Warum lachte sie, hatte Martha sie eben nicht eindeutig beleidigt?

Als die alte Dame zu Ende gelacht hatte und es nur noch ein paarmal um ihre Mundwinkel zuckte, meinte sie zu dem Mädchen gewandt: »Das war gerade wirklich lustig. Weißt Du, in meinem Alter ist man wirklich über alles froh, über das man lachen kann. Lachen ist wie ... wie das Auftanken von Autos. Man braucht Benzin, damit man nicht auf halber Strecke stehen bleibt. Verstehst Du, solange man lacht, weiß man, dass man am Leben ist. Und davon möchte ich noch soviel wie möglich haben, bevor ich auch hier lande." Und sie zeigte auf die mit Erde bedeckten Gräber.

Von fern hörte man die Kirchturmglocken fünf Uhr schlagen. Erschreckt sagte die Alte; »Oh, schon so spät. Da muss ich aber gehen, sonst komme ich noch zu spät zum Abendessen. Es war sehr nett, mit Dir zu reden. Vielleicht treffen wir uns hier ja nochmal." Sie lächelte Martha freundlich zu und steckte sich noch ein Bonbon in den Mund. Dann drehte sie sich um und verließ mit weit ausholenden Schritten den Friedhof. Martha schaute ihr nach, bis ihr wippender Kopf zwischen den Bäumen verschwand. Sie saß noch lange so und starrte einfach. Schließlich stand sie auf, um nach Hause zu gehen. Beim Schließen der Friedhofspforte hatte sie plötzlich das Bedürfnis, am Kiosk vorbeizuschauen und sich eine große Tüte Karamelbonbons zu kaufen.