Minsk und zurück..

Katharina Rätz, Niederehe

Ja, viel gibt es zu erzählen von der weiten Russlandreise. Aber zuvor muss erwähnt werden, wie es dazu kam. Drei Jahre hintereinander - von 1991 - 1993 - waren etwa 30 Kinder und Jugendliche aus der Umgebung von Tschernobyl in Niederehe zu Gast. Begleitet wurden sie von einer Ärztin und einer Dolmetscherin. Die Presse hat ausführlich berichtet. - Hier in der guten Luft und der herrlichen Landschaft haben sie sich nicht nur gut erholt, sondern auch viel Freude erlebt. Freundschaften wurden geschlossen, so auch bei mir, auf der Hühnerfarm in Niederehe. Hier wohnte nämlich Galina, die Dolmetscherin mit ihrer Tochter Irina. Als der Kindertransport im August '93 wieder in Richtung Heimat fuhr, blieb Irina noch in Deutschland, um ihre Sprachkenntnisse zu erweitern; im Oktober war die Besuchszeit abgelaufen. Ihre Mutter Galina nahm diese Gelegenheit wahr und lud mich nach Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland ein, damit Irina diese Reise nicht alleine machen musste. Spontan nahm ich die Einladung an. Schnell fand ich sogar noch eine Reisebegleiterin, Martha Hack aus Hallschlag.

Nach einigem Hin und Her waren zwei Visa von der Russischen Botschaft erteilt, viel Nützliches, Medikamente und Lebensmittel organisiert, damit sich die Reise auch richtig lohnte.

I.Tag

Es war ein aufregendes Gefühl, am 13. 10. 93 die Fahrkarte für die Reise von Köln nach Minsk in der Hand zu halten. Immerhin hat Minsk etwa 1,5 Mio. Einwohner und ist die Hauptstadt von Weißrussland.

Günter, mein Mann fuhr uns, Irina und mich, nach Jünkerath zum Bahnhof, wo Martha Hack auf uns wartete. Zwölf riesige Koffer und Taschen waren unser Begleitgepäck. In Köln stiegen wir in den Zug Richtung Moskau. War das eine Arbeit und Aufregung! Gott sei Dank hat uns ein junger Mann bei der Gepäckverladung kräftig geholfen. Im Abteil hatten wir uns mit all den Koffern fast zugemauert, aber mit viel Geschick schafften wir drei Frauen es, die Betten zu richten. Aus den Kissen flogen die Federn und merkwürdige Gerüche umgaben uns. Es war nicht zu übersehen, dass es ein echter russischer Zug war, alle Hinweisschilder in kyrillischer Schrift und die Hygiene ließ sehr zu wünschen übrig.

Nach einer kleinen Stärkung krochen wir in unsere Kojen und versuchten, zu schlafen. Um uns herum nur russische Mitreisende, von deren angeregter Unterhaltung wir sowieso nichts verstanden. Nur im Nebenabteil haben wir Russland-Deutsche getroffen. Sie kamen aus Sibirien und wurden dreimal vertrieben.

2. Tag

Endlich eingeschlafen, werden wir schon wieder geweckt, 3.50 Uhr, Passkontrolle der polnischen Grenzbeamten in Frankfurt/Oder. Ich fühlte mich zwar sehr gestört, aber so sind eben die Vorschriften.

Um acht haben wir gefrühstückt und nahmen dankbar heißes Wasser in Bechern, das wir mit unserem löslichen Kaffee in einen duftenden Mokka verwandelten. Tat das gut! Allmählich kamen die Lebensgeister wieder. Draußen lasen wir auf den Schildern »Warschau" - die Metropole Polens und ein bedeutender Verkehrsknoten. Hier wurde der Zug für die verschiedensten Himmelsrichtungen neu zusammengestellt.

Weiter ging es nach Brest. Die Uhr zeigt zwölf und hier an der russischen Grenze wurde Waggon für Waggon hydraulisch hochgehievt und auf eine andere Spurbreite heruntergelassen. Keiner durfte den Zug verlassen. Russische Grenzer nutzten die Zeit zu gründlichen Kontrollen - Pass, Visum und Formulare, Formulare! Irina füllte sie aus. Fragen über Fragen: Wieviel Geld, welchen Schmuck und so weiter... Da in den Koffern Hilfsgüter für Russland waren, mussten wir sie nicht öffnen. Nach zwei Stunden war der Spuk vorbei. Jetzt rollten wir durch Rußssand, entlang an brachliegenden Flächen und endlos erscheinenden Birkenwäldern. Eine arme, melancholische Landschaft. Um 23.00 Uhr quietschten die Bremsen im Bahnhof von Minsk. Nach 15.5 Stunden ist unser Ziel erreicht.

Da stand doch wirklich eine ganze Abordnung vor uns. Herzlich begrüßte Galina Martha Hack und mich mit Blumen. Sie hatte ihren Mann und einen Nachbarn mitgebracht und - ganz wichtig - einen Schwager, der ein Auto besaß. In dieses Vehikel verstauten wir einen Teil der Koffer, so dass Gaiina und ich noch mitfahren konnten. Martha Hack stieg in das Auto ihrer Gastfamilie, die sogar zur späten Stunde noch ihre Kinder mitgebracht hatte. Der Rest fuhr mit der Straßenbahn und landete gut eine Stunde später zu Hause. Das »zuhause« war eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit winzigem Bad in einem riesigen Wohnblock. Am Eingang bröckelte der Putz und die Treppenstufen wackelten. Aber Galina war stolz auf diese Errungenschaft. Für die Dauer meines Besuches teilte Irina ihr Bett mit mir.

3. Teil

Nach sechs Stunden Schlaf haben wir »deutsch« gefrühstückt und sind anschließend mit dem Bus in die Stadt gefahren. Entlang der Häuser boten junge Künstler Gemälde an. Trist war das Bild der Stadt. Durch den geringen Autoverkehr wirkten die großzügig angelegten Straßen noch leerer und breiter. In einem großen Kaufhaus wurden Schuhe, Mäntel und ein paar Nippsachen angeboten. Für meinen Sohn Udo habe ich eine Armbanduhr für 23 000,- Rubel erstanden. (Valuta: 2 000,- Rubel = 1,- DM). Schuhe mit leichten Schlehen waren für 25 000,- Rubel zu haben. Galina bemerkte: »Früher haben sie nur 10 000,- Rubel gekostet.- Mit dem Elektrobus ging's wieder heim. Während der Fahrt gab es plötzlich ein schreckliches Gepolter. Die Verbindungsstange vorn Bus zur Oberleitung war heruntergedonnert, der Bus stand, weil Kontakt zum Strom fehlte. Alle Fahrgäste stiegen aus und wurden vom nächsten schon überfüllten Linienbus mit übernommen. Ein Wunder, dass wir diese Fahrt lebend überstanden haben. Zu Hause hatte Galina schnell ein schon vorbereitetes Mahl gezaubert: Gehacktes im Nudelteig, köstlich!

Während ich zwei Stunden schlief, hatte Irina einen Apfelkuchen gebacken, der ihr gut gelungen war.

Als am Abend Galina mit ihrem Mann von der Schule nach Hause kam, haben wir es uns gemütlich gemacht und mit einem zünftigen Wodka auf die Völkerverständigung und die Liebe zwischen Russland und Deutschland angestoßen: »Nas-Strowie!« - Galinas Mann ist ein besonders fröhlicher und lieber Mensch.

4. Tag:

Irina und ich sind heute erst um zehn Uhr aufgestanden. Ich hatte ein bisschen Heimweh. Nach dein Frühstück habe ich im Fernsehen einen Film geguckt. Verstehen konnte ich zwar nichts, aber erkannte sofort, dass es sich um die Russische Oktoberrevolution von 1917 handelte. Dann bin ich alleine etwas vor die Türe gegangen, um auf dem Spielplatz Kinder zu fotografieren. Sie haben lieb mit mir gesprochen. Schade, ich habe sie nicht verstanden.

Galinas Essen war köstlich, dann mussten wir uns beeilen, denn Galina musste in die Schule. Irina und ich durften in den Deutschunterricht mitkommen. Welch eine Überraschung! Die Schüler - junge Erwachsene - haben mir drei Stophen des Liedes: »Sah ein Knab ein Röslein steh'n . ..« vorgesungen. Dann stellten sie mir Fragen: "Wie heißt Du?" Antwort: »Katharina". Sie strahlten mich an, und ich fühlte, dass sie mich mochten. Sofort meinte ein junger Mann: »Ich habe eine sechs Monate alle Tochter, die auch Katharina heißt." Andere Jungen fragten: "Hast Du ein eigenes Haus? Wie groß ist es? Hast Du ein Auto? Dann hast Du sicher auch einen Orden? Welchen Beruf hast Du?« Ich erzählte ihnen von meinen Kindern und von meiner Arbeit auf der Hühnerfarm und vom Leben hierin Deutschland.

Zu schnell verflog die Stunde und mit der Metro ging's wieder heim. Unterwegs trafen wir Galinas Freundin Tamara, die sehr traurig war. Sie hatte einen Brief aus Deutschland erhalten, aus dem die beigelegten 30,- DM entwendet worden waren, die sie so dringend für ihr krankes Knie benötigt hätte.

Am Abend telefonierte ich mit Fedja, meinem Ferienkind in den Jahren 1991 und 1992. Er wohnt 300 km von Minsk entfernt in Naroblia. Wir vereinbarten ein Wiedersehen. Ob es klappt, wussten wir noch nicht, denn es gibt wenig Benzin.

5. Tag:

Sonntag. - Nach gemütlichem Frühstück kommt Martha Hack mit ihrer Gastgeberin. Wir fahren alle zum Flughafen, um den Preis für einen Rückflug nach Deutschland zu erkunden.

Da uns 1 000,- DM pro Person zu hoch erschien, haben wir beschlossen, wieder mit der Bahnzurückzufahren.

Unterwegs sahen wir kleine Verkaufsbuden. Bei verschiedenen waren die Scheiben eingeschlagen. Galina erklärte, das war die Mafia. Diese Besitzer konnten das Schutzgeld nicht bezahlen. Überhaupt - alles ist so trist, grau und trostlos. Die Häuser sind so schwarz, als hätten sie gebrannt. Galina munterte uns mit einem Festessen auf. Mit sechserlei Salaten, Kartoffeln, Gehacktem und überbackenem Käse. Marthas Gastmutter und Irina waren die Meisterköche, während wir zum Flughafen fuhren. Galina hatte noch ihre Nachbarn und ihre Freundin Tamara, die auch Deutschlehrerin ist. in die kleine Wohnung eingeladen. Es war ein echtes Fest mit ganz bezaubernden Menschen.

6. Tag:

Frühstück, Einkauf. - In unmittelbarer Umgebung bummelten wir durch die Geschäfte. Vor einer leeren Fleischtheke stand eine lange Schlange von Menschen. Sie hatten gehört, es würde Fleisch geliefert. Lediglich die Holzklötze waren noch blutverschmiert vom Vortag. In den anderen Geschäften gab es Saft, Gurken und runzelige Möhren.

Vor dem Geschäft verkaufte ein Mann ein paar Apfel und Blumen aus dem Garten. Galina hatte zwei Päckchen Quark erstanden. In einem anderen Geschäft sprach Galina mit einer Verkäuferin.

Als sie hörte, dass ich aus Deutschland war, ließ sie fragen, ob man in Deutschland wenigstens für eine kurze Zeit arbeiten könnte. Sie würde zwar hier verdienen; aber das Geld reiche nur für die allernötigste Nahrung. Es ist alles so hoffnungslos. Die Menschen haben das Lachen verlernt und sogar die Kinder sind so ernst und haben traurige Augen. All diese trübsinnigen Eindrücke geben unseren Gedanken breiten Raum, dem Erlebten und Gesehenen nachzugehen.

7. Tag:

Heute gehen wir mit Martha und ihrer Gastmutter in die Bildergalerie und anschließend ins Museum. Schade, wie würde sich jetzt Günter freuen! Alle Tiere und Pflanzen, die es in Weisßrussland gibt, sind hier zu sehen.

Minsk ist nicht nur ein bedeutendes kulturelles Zentrum mit Universität, Theatern und Museen, sondern hat auch wichtige Industriezweige - wie Kfz- und Maschinenbau. Holz-, Leder- und Text i l Verarbeitung und Baustoffhandel. All dies bildet eine wichtige wirtschaftliche Grundlage. Aber es gibt auch drei architektonisch bedeutende Kathedralen Zwei davon werden leider noch zweckentfremdend genutzt, während eine aus dem Jahre 1910 jetzt renoviert wird. Vor den Eingangsstufen werden morgens auf einem provisorisch errichteten Altar Messen gelesen. Eindrucksvoll war es zu sehen, wie die Menschen näher kamen, um tiefbewegt an der heiligen Handlung teilzunehmen. Ansonsten hat die Stadt eine flache Ausdehnung. Nur im Norden im Bereich der Endmoränen ist es stark hügelig mit Höhen bis zu 340 m. Besonders schön ist das Gebiet des großen Stausees, erklärte Galina. Er zieht im Sommer und Frühling viele Erholungssuchende an. Überhaupt ist Weißrussland reich an Ressourcen, aber auch durch seine ausgedehnten »Polesje - Sümpfe« ein wasserreiches Land. Man sprach von 10 000 Seen und 20 000 Flüssen.

Jetzt im Oktober ist es draußen kalt geworden, aber auch in Galinas Wohnung. Die Heizung funktioniert nicht, kein warmes Wasser. Da Tamaras Heizung mittags noch in Betrieb war, wollten wir abends zu ihr baden gehen. Kurz darauf rief sie an und meldete, dass auch jetzt bei ihr alles kalt sei. Schade. -22.30 Uhr, wir beenden den Tag. Ich freue mich, denn morgen kommt Fedja.

8. Tag;

Galina und ich trafen Fedja in der Stadt. Auf einem riesengroßen Platz war Fedja wie ein Pünktchen zu sehen. Ich dachte mir gleich, das kann er nur sein. Noch zwei Schritte, und ich rief laut: «Fedja!" - Sofort hallte es zurück: »Käthe!" Er kam angerannt und warf sich in meine Arme. Fast wäre ich umgefallen. Fedjas Vater wartete auf der anderen Seite der Straße bei seinem Auto. Nun gingen wir zusammen hinüber. Jetzt überreichte mir Fedja drei rote Rosen. Er trug meine Tasche und war ganz Kavalier. Gemeinsam besuchten wir eine Gaierie. Fedja wich nicht von meiner Seite. Immer wieder nahm er meine Hand. Er war sehr glücklich. Dann fuhren wir alle zu Galina nach Hause. Hier hatte Irma gekocht, und wir aßen alle zusammen zu Mittag. Bald musste Galina zum Unterricht und Fedjas Vater nahm sie im Auto mit. Der Abschiedsschmerz war groß. Fedja weinte herzzerreißend. Als sie fort waren, habe ich meine Sachen geordnet, mich ein bisschen hingelegt ... Ich war ganz krank vom Abschiednehmen.

Um 18 Uhr kam Galina aus der Schule und überraschte uns mit Eintrittskarten für's Theater. Wir machten uns schön und brausten mit einem schrecklich klappernden Taxi los. Die Ballettaufführung »Carrnina burana« von Carl Orff war überwältigend. So etwas Schönes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

In der Pause berichtete begeistert ein Mädchen, das auch Deutsch sprach, daß es einmal mit einer Kindergruppe in Dresden war. Um Mitternacht kehrten wir heim und haben mit einer Flasche Sekt Abschied gefeiert.

9. Tag

Knapp vier Stunden Schlaf mussten reichen. Nach einem kurzen Frühstück kam Tamaras Bruder mit dem Auto und beförderte uns alle zum Bahnhof. Hier wartete auch schon Martina mit ihren Gastgebern. Um 5.30 Uhr rollte unser Zug aus.

Martha war so unglücklich und weinte noch stundenlang im Zug, so erschüttert war sie von den Eindrücken, besonders von der Armut in Russland. Ein Geschäftsmann aus Albanien gesellte sich zu uns ins Abteil. Er hatte zwei Wochen in Minsk in einem Ingenieurbüro zu tun. Auch er war tief betroffen von den russischen Verhältnissen.

Wenn dieser Tag und die kommende Nacht vorüber sind, dann genießen wir wieder gewohnte zivilisierte, hygienische Verhältnisse. Ein Lichtblick war noch der freundliche Schaffner. Er wollte uns laufend mit Kaffee und Tee verwöhnen, aber wir dachten an die Toiletten im Zug und sagten: »Nein, danke.» Wieder Grenzen, Pässe, Kontrollen. Jetzt beeindruckte uns das alles nicht mehr. Unsere Gedanken weilten noch bei unseren lieben Freunden in Weißrussland. Welch eine Mühe haben sie sich für uns gemacht. Wir wünschen und hoffen sehr, dass auch bald die russische Bevölkerung in geordneten und menschenwürdigen Verhältnissen leben kann.