Wie der Zufall es will

Wilma Herzog, Gerolstein

Marlies Bauer war immer noch hübsch, obwohl bei genauerem Hinsehen die scharfe Linie erkennbar wurde, die sich um ihren Mund eingegraben hatte. Dunkelgekleidet saß sie im Zug, der Richtung Eitel fuhr.

Fünfzehn Jahre waren vergangen seit der letzten schweren Auseinandersetzung mit den Eltern, als sie schwur, nie wieder nach Hause zu kommen. Damals ging es um ihre Verlobung, inzwischen lange schon zerbrochen. In Erinnerung daran zieht sich ihr Mund bitter zusammen. Bisher widerstand sie allen Bitten ihres Bruders Richard, wenigstens doch zu Weihnachten heimzukommen. Sie täuschte Unabkömmlichkeit vor, eine gebuchte Reise oder den zugesagten Besuch bei Freunden. Sie blieb hartnäckig bei der Entscheidung, die Familie völlig aus ihrem Leben zu streichen. Daran änderte auch der Schlaganfall des Vaters vor ein paar Jahren nichts, der gelähmt blieb und dessen sehnlichster Wunsch es war, seine Tochter noch einmal wiederzusehen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gaben ihre Mutter und Richard es schweren Herzens auf, sie noch einmal zu bitten, nach Hause zu kommen.

Marlies schaut aus dem Zugfenster in die vertrauter werdende Eifellandschaft und kostet im Stillen schon den Eklat aus, der ihr Erscheinen auf dem Friedhof der Kleinstadt, bei der Beerdigung der alten Frau Helten, einer früheren Nachbarin, hervorrufen würde. Wie ein Lauffeuer würde es doch die Runde machen: Marlies ist zur Beerdigung der Nachbarin gekommen, am Hause ihrer Eltern aber geht sie vorbei. Ja, sie investiert immer noch in den alten Hader; ein Kondolenzbrief an die Nachbarn hätte durchaus gereicht. Um aber erneut den Groll ihrer Familie gegenüber zu zeigen, entschied sie sich für ihr persönliches Erscheinen, wozu sie sogar einen Urlaubstag opferte, dem Zufall dankbar, vom Tod der Nachbarin so rechtzeitig erfahren zu haben. Angekommen, steigt sie gleich in ein Taxi zum Friedhof. Sie hat ausreichend Zeit, in aller Ruhe einmal durch die Gräberreihen zu gehen, um zu schauen, wer gestorben war, seit sie den Ort verlassen hatte. Völlig überrascht findet sie die Beerdigung bereits im Gange. Sie reiht sich hinter den letzten Trauergästen ein, geht mit zum offenen Grab, um die Verstorbene ein letztes Mal zu segnen. Wie sie mit Weihwasser das Kreuzzeichen über den blumengeschmückten Sarg macht, fasst jemand ihren Arm und sagt: »Danke, Marlies, dass du gekommen bist, das hat sie sich zuletzt immer wieder gewünscht.« Marlies erkennt ihren Bruder. »Ich verstehe nicht, Richard, Frau Helten ...« Er schüttelt traurig den Kopf: »Ihre Beerdigung ist anschließend.« Da liest sie auf dem schlichten Holzkreuz, das in der ausgehobenen Erde steckt, den Namen ihrer Mutter.