Heimat in der Literatur

Der Handwerker

Lotte Schahacker, Daun

Meine Freundin Sigrid und ich, wir sind von Natur aus neugierig. Wenn in unserer Hocheifel etwas gefunden, ausgegraben oder restauriert wird, dann nehmen wir das in Augenschein. Diesmal war es die Bertradaburg bei Mürlenbach. Nun, das Bauwerk war leicht zu finden; wir wussten von Fotos, dass es mit seinen zwei mächtigen Türmen wirkt wie die Westfassade einer Basilika.

Das Land Rheinland-Pfalz und der derzeitige Eigentümer dieser alten Burganlage hatten nicht Mühe noch Kosten gescheut, um eine Ruine (die Torburg wurde im 13. Jahrh. erbaut), ehemals wohl eine Grenzfeste der damaligen Fürstabtei Prüm, vor dem gänzlichen Verfall zu retten. Auch hatte man ein Fünftel des ursprünglichen Baukörpers, den wichtigsten, restauriert und rekonstruiert. Ergebnis: Mitten in der Hocheifel ein Stück Mittelalter, das nun nach langer Zeit in (fast] alter Pracht auferstanden ist!

Das Dorf Mürlenbach interessierte uns auch, aber eher aus unmoralischem Grund. Hier nämlich sollte auf dem Hofgut seiner Urgroßmutter klammheimlich ein voreheliches Kind, das man Karl nannte, zur Welt gekommen sein. Zu »Karl dem Großen- wurde es erst später.. .

Mit diesem lückenhaften Wissen ausgestattet betraten wir nun den vieleckigen Burghof, der von einer etwa zehn Meter hohen Mauer eingefasst war. Wir sahen uns um, bewunderten die Riesentürme von hinten, die durch ein niedrigeres Mittelstück miteinander verbunden waren, fanden jedoch das Eichentor zu diesem Prachtbau verschlossen. Und kein Mensch weit und breit. Doch, in einer Ecke versuchte ein Handwerker, ein kleines Loch in die Hofmauer zu bohren. Als er uns sah, rief er freundlich, wir könnten uns hier alles anschauen. Und wenn wir durch das große Tor und dann rechtsherum gingen, dann . .. Und wenn wir den anderen Ausgang nähmen, dann . ..

Wir versprachen, das alles zu tun, aber uns fielen fürs erste mal ein paar Fragen ein, die uns die Steine nicht beantworten konnten. Vielleicht wusste der Handwerker ein bisschen Bescheid, und wir steuerten auf ihn zu. Es zeigte sich schnell, dass der an einem Schwätzchen mit uns mehr interessiert war als an seinem Loch. Wir überfielen ihn also mit unserem Nichtwissen. Die Fensterchen da oben in der Burg seien verglast, ob denn da Leute wohnten? - Leider noch nicht, aber die Scheiben hingen einstweilen auch nur recht lose in ihren Rahmen; ein Orkan sei nicht willkommen. - Und wo das Fallgitter sei, von dem wir gehört hatten? - Natürlich vorne! Es sei schwer zu bewegen, der Mechanismus funktioniere nicht so gut wie im Mittelalter.

Der Handwerker berichtete weiter, beantwortete unsere Fragen präzise und gründlich. Er wusste überhaupt alles, kannte jeden Stein. Er sprach von einem großen Saal, der heute überbaut sei. Und die ursprüngliche Mauer um den Hof müssten wir uns etwa einen Meter höher vorstellen. Und die steilen Dächer des Bauwerks seien mit Schiefer neu gedeckt. Und . ..; er kannte diese Burg besser als wir unsere Gartenzäune. Das erste, was mir so nebenbei durch den Kopf ging: unser Handwerker sprach keinen Eifeler Dialekt, sein Hochdeutsch hatte sich gewaschen. Aber warum nicht? Es gibt ja auch Politiker, die sich gut ausdrücken können, weshalb also keine Handwerker? Inzwischen war er mit seinem Bericht ins Innere der Burg vorgedrungen. In den vierzehn miteinander verbundenen Räumen lägen jeweils fünf übereinander in den beiden Türmen. Unten im Mittelbau sei die Torhalle. Ein Tor mit dem schon erwähnten Fallgitter zur Feldseite und eins zum Burghof. Vom dritten Geschoss über der Torhalle aus konnte besonders gut der Eingang zur Burg verteidigt werden. Fast alle Räume hätten Feuerstellen, insgesamt zwölf. Drei mächtige Kamine für den Rauch. Über die steile Wendeltreppe im Mittelbau, ursprünglich ans rotem Sandstein, komme man bis ins höchstgelegene Zimmer. Eine Kapelle und einen Abortraum gäbe es auch, da und da. Dazu verwinkelte Gänge und Treppen in die ehemaligen Keller. Im zweiten Stockwerk befinde sich .. . Woher wusste er das alles? Es konnte nicht anders sein, er hatte bei der Restaurierung mitgearbeitet. Der ideale Handwerker: Interessiert, sachkundig, und intelligent war er auch noch!

Auf eine unserer Fragen hin begann er nun mit der Wanderung in die Vergangenheit. Er rasselte Jahreszahlen herunter wie unsereiner das ABC, unterschied streng zwischen Überlieferung und historischem Wissen. Und die komische Geschichte mit Karl?, wollten wir erfahren. Nach den Berechnungen der Historiker sei seine voreheliche Geburt belegt. Alles andere sei Überlieferung: Karls Vater, Pippin der Kleine, wollte Schwierigkeiten in der Erbfolge aus dem Weg gehen, denn der nachweislich eheliche zweite Sohn des Königspaares, Karlmann, konnte sich als legitimer Erbe betrachten. Was er später auch tat. Streitigkeiten! Pippin bestimmte dann beide Söhne zu seinen Nachfolgern. Jedoch Karlmann starb früh, und so wurde Karl der König aller Franken. Fest stehe nur, daßssKarl geboren worden sei. Wann genau und wo? Vielleicht doch in Mürlenbach.

Dann hätte es damals also auch schon »Bett ohne Trauschein« gegeben, meinte Freundin Sigrid. - Oh, öfter als heute! Das glaubte ich zwar nicht, hielt aber den Mund. Er wusste eh alles besser. Er wusste auch, dass Pippin der Kleine seinen Beinamen nicht seiner kurzen Gestalt zu verdanken hatte, wie mir beigebracht worden war, sondern . . , Und sein Vater Karl Martell.. , Wenn unser Handwerker so weitermachte, würde er bald beim Urknall angekommen sein. Genial! Aber selbst unter den Zahnärzten gibt es Genies, also weshalb nicht unter den Handwerkern! Mir fiel mein beschädigtes Balkongitter ein. So einen wie den müsste man in der Nähe haben! Der Handwerker schielte zu seinem gut ausgestatteten Werkzeugkasten. Er müsse jetzt leider weiter Löcher bohren, um ein Schildchen anzubringen, von wegen Denkmalpflege. Morgen wolle er heim nach Moers denn er habe eine Vorlesung zu halten. Ach, so war das: Der Herr Professor Handwerker! Mir fiel spontan eine Frage ein, die ich selbst albern fand, aber ich stellte sie doch: "Sind Sie hier vielleicht der Burgherr?" «Ja!« sagte er. Damit waren wir verabschiedet, bedankten uns artig für seine Belehrungen und umwanderten nachdenklich die Torburg, so weit das möglich war. Nun fielen uns noch mehr Fragen ein. Etwa: Was hatte den Professor dieser noble Laden hier wohl gekostet? Aber man fragt ja noch nicht mal einen Kollegen, wie teuer sein neu erworbenes Haus war. Sigrid hatte plötzlich eine Idee: "Mir fiel da neulich ein Text über diese Torburg in die Hände. Ich habe ihn erst mal nur flüchtig gelesen, aber den Namen des Autors weiß ich noch: Professor Dr. Klaus Tiepelmann. Ob der das ist? Das will ich doch wissen." Sie lief in den Burghof zurück und kam strahlend wieder. »Ja, er ist es! Vielleicht schreibt er ja nochmal einen Artikel und erwähnt darin den Preis!" Wenn sich die Summe in Grenzen hält (ich las mal von einer Burg, die den Käufer ganze DM 5,- kostete), wird sich Sigrid sicher demnächst auch eine Ruine kaufen und sie putzen. Ich werde dann das Burggespenst spielen, das würde mir Spaß machen. Das könnten wir so lange betreiben, bis wir merken, dass nicht das Kaufen, sondern das Restaurieren das ganz große Geld kostet...