Nachruf auf die Mohn

Maria Kraemer, Oberbettingen

Weltweit, so berichten die Medien, sterben täglich 200 bis 400 Arten von Lebewesen aus. Ausgestorben ist auch eine besondere Art des Homo Sapiens in der Eifel - die Mohn. Die letzten Exemplare sind in den siebziger Jahren aus den Dörfern verschwunden, altersbedingt, »Nachkommenschaft« gab es nicht. Halt - so ganz ausgerottet sind sie (noch) nicht. Einmal im Jahr, am Weiberdonnerstag, feiern sie fröhliche Auferstehung, Dann werden traditionelle Kostüme aus der »Klamottenkiste" geholt - was wäre ein Karnevalsumzug ohne Möhnen?

Doch hier geht's um die echte Mohn, die es bis um 1970 in den Eifeldörfern gab. Noch lange nicht jede alte Frau im Ort ist eine Mohn. Woran es lag, dass manche alte Dame bis zum Ende ihrer Tage nur Frau Sowieso blieb oder den dörflichen Ehrentitel "Mohn" erhielt, weiß ich nicht. Verheiratet waren die Möhnen mit einem männlichen Gegenstück, dem Ühm, auf den ich zum Schluss noch zurückkommen will. Meine beiden Schwestern und ich wuchsen in einer Drei-Generationen-Familie auf. Die Großeltern hießen nicht Opa und Oma, sondern Jött und Patt, obwohl sie nicht über alle Enkelkinder Taufpaten waren.

Im Dorf hab ich die beiden allen Leute nie anders als »Letschühm« und »Letschmöhn« nennen hören, per Hausname war es, der dem Titel Mohn oder Ühm vorangestellt wurde. Im Falle meiner Großeltern waren Haus- und Familienname identisch. Die Möhnen waren also mit ihrem Ühm verheiratet oder sie waren verwitwet. Ich weiß von keiner ledig gebliebenen Frau, die im Alter in den Möhnenstand kam. Die gesunde rüstige Mohn war die absolute Hausautorität. Sie schwang das Familienzepter über Enkel, Kochtöpfe, Hühner und Schwiegertöchter. Soweit Ehemann und Söhne willig waren, unterstanden sie auch der Möhnenherrschaft. Nicht selten verwaltete die Mohn mit eiserner Sparsamkeit die Familienfinanzen sehr zum Nutzen des Etats!

Die Möhnen waren betreffs ihrer eigenen Person meist bedürfnislos. Nur mussten sie täglich Bohnenkaffee trinken, daher die Bezeichnung »Kaffeemöhn«, und Ühmen, die ihre Pfeifen rauchten, hießen »Pfeifenühm«, Alle Möhnen, auch meine Großmutter, trugen solide Einheitskleidung. Von wegen Dauerwelle und Kosmetik! Die Frisur war auch einheitlich. Das graue Haar zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, der mit den Haarnadeln hinten am Kopf zum Dutt gesteckt wurde. Mit der Möhnenwäsche kannte ich mich durch Großmutter bestens aus. Sie trug warme, solide, rechts plattierte und links gerauhte Unterhosen und Röcke. An den Beinen lange schwarze Wollstrümpfe und an den Füßen hohe schwarze Schnürschuhe. Auf dunkle Werktagskleider band sie eine große blaue Siamosenschürze. Sonntags, oder wenn sie einen Gang ins Dorf machte, trug sie eine schwarze, glänzende Satinschürze über dem besseren Kleid.

Der sonntägliche Messebesuch erforderte einen schwarzen Hut auf dem Kopf oder ein schwarzes Chenilletuch. Im Sommer sah man die Mohn oft auf dem Holzstuppen sitzen. In den Händen den »Paulinus« oder den Strickstrumpf, beaufsichtigte sie Kleinkinder oder eine Glucke mit frisch ausgeschlüpften Hünckelchen. Für ein kleines Kind war die Mohn ein Fels in der Brandung. Hinter ihren soliden langen Röcken konnte es sich schön verstecken.

Die Möhnen wussten alles, nichts blieb ihnen verborgen. Sie übten zum größten Teil die soziale und moralische Dortkontrolle aus. Der Schimpfname »Klatschmohn« war selten gerechtfertigt. Die Möhnen meiner Kinderzeit waren fast immer freundlich und gelassen. Die Ühmen passten mit der Kleidung zu den Möhnen, Natürlich trugen sie Hosen statt Röcke. Es gab auch das Zitat von der "Klatschmohn in langen Hosen«. Damit musste aber ein geschwätziger Ühm gemeint sein! Es gab mehr Möhnen als Ühmen; sie waren zäher und überlebten zum Tel! ihre Partner um viele Jahre. Die Ühmen hatten schöne weiße Vollbärte und rauchten lange, gebogene Pfeifen. Im Sommer saßen sie auf der Hausbank in der Sonne; im Winter hinterm Ofen. Sie tranken Trester, spielten »Siwweschröm« und paßten auf das Feuer auf. Die Pfeifen brannten sie mit Fielen an. Das waren lange dünne Holzspäne, die sie mit dem Messer schnitten. Als Kind saß ich am Nikolausabend dicht neben meinem Großvater, dem Ühm, auf der Bank. Er hatte das lange Stocheisen in der Hand und beschützte mich damit vor dem Pelzebock, der - die Augen wild rollend - mit einer Kette rasselte, ehe der Heilige Mann mich begrüßte.

Nun sind sie ausgestorben, die Möhnen und Ühmen vergangener Zeiten, um Platz zu machen für Senioren, Omas und Opas, neue Enkelgeneralionen. Was bleibt? Kinder suchen immer Menschen, die Geduld haben, Zeit für ihre Sorgen, die sie anhören; ob das Mohn oder Ühm oder Oma ist, bleibt am Ende gleich.