»Wuuschtfäst« als Kinnesersatz

Untergegangenes bäuerliches Brauchtum in der Eifel

TheoPauly. Gerolslein

In meiner Kindheit wurden im Normalfall zwei Feste innerhalb der Familie gefeiert im Laufe eines Jahres. Das eine war die Kirmes am Sonntag nach Hubertus, das zweite war »Et Wuuschtfäst«, etwa im März oder April, je nachdem, wie lange es gedauert hatte, bis die »Mast", das Mastschwein, ausgereift war und möglichst eine Handbreit Speck aufwies. Zur Kirmes gehörte immer ein guter Braten, so wurde denn "für Kirmes- geschlachtet. Etwa ab Mitte Oktober hatten die Hausschlachter alle Hände voll zu tun, und beißender Brandgeruch von versengten Schweinsborsten lag tagelang über den Dörfern. Oft schlachtete Ruude Hubert aus Neichen mit seinem Gesellen Belse Jakob drei, vier und mehr Schweine an einem Tag. Da ging es schon in aller Frühe los und hörte lange nach Einbruch der Dunkelheit erst auf, und wir Kinder durften "De Lücht«, die Stallaterne, halten, ab und an auch die Pfanne, in der das Blut des mit der Axt erschlagenen und mit dem langen und scharfen Metzgermesser gestochenen Schweines aufgefangen wurde. Wenn dann am nächsten oder übernächsten Tag Wurst gemacht wurde, duftete das ganze Haus nach Kochfleisch und Gewürzen, und das im Einmachkessel oder gar im »Schweinskessel« gekochte Fleisch schmeckte so frisch auch ohne Salz und Pfeffer vorzüglich. Es war eine Freude, den Fleischwolf drehen zu dürfen und zu beobachten, wie sich die Schweinsdärme mit »Füllsel" füllten. Die zu Ringeln abgebundenen Würste wurden, auf einer Stange aufgereiht, zum Trocknen aufgehängt Und sie schmeckten, diese Blut- und Leberwürste, ob frisch, ob luftgefrocknet oder später geräuchert! Wurstbrühe ging in die Nachbarschaft und war in den nächsten Tagen im eigenen Hause jeweils die Suppe, ohne die ein Mittagessen nicht vollständig gewesen wäre.

Zur Kirmes hatten wir nie viele Gäste, da alle Verwandten innerhalb der Pfarrei wohnten und die Hubertuskirmes selbst feierten. Von der »Kirmessau" wanderten immer noch eine erkleckliche Anzahl Würste in den »Hoaschten«. Anders war das beim Schlachtfest im Frühjahr. Das »Wuuschtfäst« diente als Ersatz für die zweite Kirmes, andernorts auch "Schottelfäst« genannt, die die einzelnen Filialen der Pfarrei feierten; es waren dies kleine, interne Kirmessen, die am Tag des Schutzpatrons der Filialkirche begangen wurden, und zu denen die Verwandten geladen waren, die ja zur Hauptkirmes ihre eigene Feier hatten. So feierte man in Boxberg den »Kathreinendaach« (St. Katharina) am 25. November, in Neichen den »Brijit-tendaach« (St. Brigida] am 1. Februar, in Kra-denbach St. Maternus im September, in Sar-mersbach den »Niklosdaach« (St. Nikolaus), in Nerdlen den »Atunniesdach» (St. Antonius mit der Sau) und in-Gefeil den »Applunijendaach« (St.Apollonia).

Da Beinhausen als einziger Filialort keine eigene Kapelle aufzuweisen hatte, auch wenn »Schreinerkloas« zeit seines Lebens alle Dorfbewohnergebeten hatte, ihn beim Bau einer eigenen Kapelle für das Dorf zu unterstützen, und der Ort bis heute keine solche besitzt, wurde eben in Beinhausen als Äquivalent für die "Schottelfeste« das "Wuuschtfäst" gefeiert. Fünf Familien in unserer Verwandtschaft machten »Wuuschtfäst durchenanner", beziehungsweise luden sich gegenseitig zu den Schottelfesten ein. Allerdings nahmen nicht alle Familienmitglieder an einem soichen Fest teil oder wurden dazu eingeladen. Die Teilnahme war das Vorrecht der alten Damen, der Matronen des Hauses. Bei uns fanden sich dann immer zur Freude meiner Großmutter ein: Stroaßen Threin, eine Schwägerin der Großmutter, Schneidesch Mohn, eine Schwippschwägerin, Sondönnejesch Mohn, die Schwiegermutter meines Onkels, eines Sohnes meiner Großmutter, und Höffches Mohn. Deren Mann, Höffches Ühm, war als Kind in unserem Hause großgezogen worden und gleichsam als Bruder meiner Großmutter aufgewachsen. Das Wurst- oder Schlachtfest wurde stets an einem Sonntag gefeiert, und nach dem Hochamt trafen die Gäste zum Mittagessen ein. Als Vorspeise gab es jeweils eine Suppe, zur Feier des Tages mit Sternchen- oder Fadennudelein-age. Zum Hauptgericht wurden gebratene Blut- und Leberwurst gereicht, Kochfleisch und Braten, als Beilagen Salzkartoffeln und »saurer Kappes«. Nachtisch war meist ein Vanillepudding mit Himbeersoße. Die Einnahme des »Menüs« zog sich hin; es war ja Sonntag, Ruhetag, an dem keinerlei knechtliche Arbeiten verrichtet wurden; sogar der obligatorische Strickstrumpf der Großmutter verblieb im Takenschränkchen, und außerdem gab es ja soviel zu erzählen, von diesem und jenem und über diesen und jenen.

Nach dem Mittagstisch, der dieses Mal wie an Kirmes in der "Stuft« gedeckt gewesen, abgeräumt war, blieben die Möhnen am Tisch zurück, um weiter ihrer Festtagsbeschäftigung, dem Reden und Erzählen, nachzuhängen. Damit die Luft nicht zu trocken blieb, wurde Kaffee in Mengen getrunken, durch den, wie Großmutter zu sagen pflegte, zur Feier des Tages »eine Bohne durchgezogen« worden war. Spirituosen gab es keine im Haus, und Alkohol, ein Likörchen etwa oder ähnliches, wurde nicht einmal zum Schottelfest bei Stroaßen Threin oder Schneidesch ausgeschenkt, obwohl doch da, in einer Gastwirtschaft, alkoholische Getränke reichlich vorhanden waren. Reinen Bohnenkaffee zuzubereiten wäre sicher auch zu teuer gewesen, und so wurden dem »Kathrei-ner« ein paar echte Kaffeebohnen zugemahlen. Insofern setzte sich dieser Festkaffee doch um ein ganzes Stück vom Alltagskaffee ab. Ein halbes Pfund Bohnenkaffee hielt sich bei Großmutter weit über ein halbes Jahr; es war ja auch eine teure Angelegenheit, und Sparen tat not, denn Großmutter hatte sich in den Kopf gesetzt, ein neues Haus zu bauen. Nachdem alles Ersparte in der großen Inflation der zwanziger Jahre dahingeschmolzen war, hatte sie wieder eisern zu sparen begonnen, und ich erinnere mich, dass in den vierziger Jahren wieder die Rede von einem neu zu bauenden Haus war. Da man aber das Kriegsende abwarten wollte und bis zur Währungsreform im Jahre 1948 kaum Baumaterial zu haben war, ging das Ersparte mit eben dieser Reform wieder verloren.

Aber da war Großmutter schon ein Jahr lang tot, und so ist sie trotz allen Sparens um ein neues Haus betrogen worden. Da saßen sie um den Tisch herum, die alten, greisen Damen und genossen bei »Halb-Bohne, Halb-Kathreiner« ihr Zusammensein. Während die übrigen Frauen mit den kleinen Kindern in der Küche Abwasch hielten und den Nachmittagskaffee vorbereiteten, nahm Vater mich gewöhnlich mit auf seinen »Flurgang«. Es hat wenige Sonntage im Jahr gegeben, an denen ein solcher Gang nicht stattfand. Viele, viele Jahre später hat mein Vater mir einmal erzählt, dass er schon damals geahnt habe, ich würde nie ein »Bauer« werden, denn niemals habe ich auf einem solchen Gang einmal gefragt, wem denn dieses oder jenes »Stück" (Feld] gehöre, ganz im Gegensatz zu meinem jüngeren Bruder. Ich habe nur Interesse für Vögel, und überhaupt Tiere und Pflanzen gezeigt, nie aber für den Stand einer Saat oder wem was gehöre, geschweige denn, wo unsere Felder lägen. Nun ja, wo unsere eigenen Äcker waren, wusste ich wohl schon sehr früh, denn ich wurde ja als Kleinkind stets dorthin mitgenommen, da alle Familienmitglieder auf dem Felde mitarbeiten mussten und niemand als Babysitter zurückbleiben konnte. Später wurde ich auch schon zu einfachen Feldarbeiten mit herangezogen. Ein Sechsjähriger war doch wohl imstande, »Kühl zu legen« (Kohlrabipflanzen in Abständen in die gezogenen Furchen zu legen), damit die »Großen« sie setzen konnten; er war ja wohl auch schon groß und stark genug dazu, Getreidegarben zusammenzutragen, damit die Großen die Kasten aufstellen konnten, oder Kartoffeln mit aufzusammeln, wenn sie ausgeworfen worden waren, zumindest aber Kartoffeln zu raffen, wenn der Kartoffelacker nach der Ernte umgepflügt wurde, ganz zu schweigen davon, bei der Heuernte dem Pferd oder den Ochsen die Fliegen mit Haselnußzweigen zu vertreiben.

Warum also hätte der kleine »Flurgänger« nach den eigenen Feldern und Wiesen fragen sollen, wusste er doch einmal schon, wo sie waren, und zum anderen waren diese »Eigentümer« nicht unbedingt mit angenehmen Erinnerungen verbunden: manche Arbeit macht Spaß, aber nicht jede!

Für den Nachmittagskaffee am »Wuuschtfäst« war ein Backofen voll »Flödden« gebacken worden. Auch ihm, dem Flodden, wurde trotz opulenten Mittagsmahls kräftig zugesprochen. Aber es blieben immer noch einige Stücke zurück, und die schmeckten anderntags als Pausenbrot in der Schule auch noch gut, und man konnte den Mitschülern ein wenig die Nase lang machen. Spätestens aber am Dienstag nach einem solchen Fest war auch das letzte Stück verspeist Nun begann wieder der lange Weg das Jahr hindurch mit gepökeltem Fleisch, Rauchfleisch und Schinken. Froh war man über die Tage, an denen fleischlos gekocht wurde, denn immer nur Rauchfleisch konnte einem schon zusetzen. Sonntags, ja, dann gab es Bratfleisch, das in Gläsern eingekocht war, und man freute sich jedesmal wieder, wenn Sonntag war, und ein »Glas« aus dem Keller geholt wurde. So war das »Wuuschtfäst« nicht nur eine Freude für die eingeladenen alten Damen, sondern auch für alle anderen, denn dies war neben der Kirmes fast der einzige Tag im Jahr, an dem frisches Fleisch auf den Tisch kam, das aber dann in ausreichender Menge. Und diese Tatsache ließ es das Kind auch verschmerzen, wenn es, vom Flurgang zurück, sich neugierig in den Kreis der kaffeetrinkenden Matronen eingeschlichen hatte, mit weit aufgesperrten Ohren die Redereien in sich aufnahm und irgendwann wieder hinausgeschickt wurde, weil etwa das, was nun zu erzählen war, für Kinderohren nicht geeignet erschien. Wie sagte meine Großmutter immer: »Kleine Kessel haben große Ohren!«