Nicht ansteckend, aber liebenswürdig

Stefanie Schüller, Jahrgangsstufe 10 HS Daun

»Was ist denn nebenan los?« fragte ich meine Eltern beim Abendbrot, nachdem mir aufgefallen war, dass in dem alten Haus auf der anderen Straßenseite Handwerker aus- und eingingen. "Neue-, sagte Papa mit wenig Interesse und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. So, neue Nachbarn also. Das freute mich ein wenig, denn in dem Haus hatte noch nie jemand richtig gewohnt. Jedenfalls nicht, seitdem ich denken kann. Eigentlich schade für dieses Haus. Es war ein schönes Haus. Zwar alt, aber wunderschön. Mit den großen Fenstern und dem breiten Treppenaufgang, den blassblauen Fensterläden und einer wunderbar verschnörkelten Holztür sah es richtig romantisch und vor allem einladend aus. In dieses Haus konnten doch einfach nur nette Leute einziehen. »Vielleicht haben sie auch Kinder in meinem Alter", dachte ich voller Neugierde und Erwartung.

Ich weiß noch, damals trug ich die Tageszeitung aus. Wie immer nach der Schule ging ich zunächst die entfernteren Straßen ab, um später erst in unserer Allee die Zeitungen einzuwerfen. Unbewusst behielt ich die Zeitung für Haus Nr. 13 zurück. Ich wollte schließlich Zeit haben, um die Neuen endlich zu sehen, wo sie doch jetzt schon fast eine Woche da waren. Da stand ich nun vor dem Gartentor, mit zitternden Knien, die Zeitung in der Hand. Warum kam denn niemand heraus, um das Zeitungsmädchen herzlich zu begrüßen? So hatte ich es mir zumindest vorgestellt. Nichts passierte. Also schritt ich die moosbewachsenen Treppenstufen hinauf zur Tür. Ich las das selbstangefertigte Namensschild; »von Maarstein*' stand da in großen Buchstaben. »Ach so", dachte ich, wahrscheinlich Adlige. Die wollen sicher nicht von dem gewöhnlichen Mädchen der Nachbarsleute gestört werden. Etwas enttäuscht ging ich die Treppen wieder hinab. Ich fühlte mich irgendwie beobachtet, deshalb wandte ich mich am Gartentor noch einmal um und schaute hinauf zu den Fenstern. Und da sah ich sie. Ein Mädchen blickte mich mit großen dunklen Augen aus einem der riesigen Fenster heraus an. Sie trug ein rotes Kopftuch und war sehr blass. Ich konnte nur den Oberkörper sehen. Viel länger wollte ich nicht hinsehen, denn es war mir äußerst peinlich, da sich unsere Blicke trafen und von ihr keinerlei Begrüßungsgeste erfolgte. Schnell schloss ich das Tor und lief nach Hause. Den ganzen Tag beschäftigte mich diese Begegnung. Diese Augen. Seltsam groß und traurig. So voll Sehnsucht. Aber vor allem, wer war sie überhaupt? Die Tochter der Maarsteins? Und warum dieses hässliche Kopftuch? Tausend Fragen schössen mir durch den Kopf. Alles höchst geheimnisvoll, dachte ich.

Nun kam aber der Zeitpunkt, wo ich das Geld für die Zeitungen einholen musste. Eigentlich war ich fertig. Außer die Maarsteins. Die hatte ich noch nicht abkassiert. Mir war nicht danach.

Schließlich ging ich doch, nicht gerade mutig, hinüber. Langsam stieg ich die Treppenstufen hoch. Ich hatte Angst, fühlte mich steif, und mir war kalt. Hoffentlich redeten oder fragten sie nicht viel, damit ich wieder nach Hause konnte. Zögernd klingelte ich. Schon der Klingelton ließ mich zusammenfahren. Dann, ganz langsam, vorsichtig wurde die Tür geöffnet. Zunächst sah ich gar nichts, nur einen dunklen Flur. Schließlich blinkte Metall, Räder, ein Rollstuhl, in dem sie saß, das Mädchen mit den großen Augen und dem Kopftuch. »Guten Tag, ich wollte...«, sagte ich fast tonlos. »Ich weiß, das Zeitungsgeld«, unterbrach sie mich freundlich. Hatte sie mich vor ein paar Tagen doch noch so angestarrt, war sie jetzt ganz anders, als ich dachte.

»Wie ist Dein Name?« fragte sie. "Christiane". "Mein Name ist Muriel«, sagte sie, und gleich darauf fragte sie: »Möchtest Du nicht hereinkommen?«

Hineingehen? Dort hineingehen? Wenn sie doch nur von meiner Angst wüsste. Aber dann lächelte sie und sagte ganz leise: »Ich würde mich freuen.«

Schon stand ich in einem großen Vorraum mit Korbmöbeln und einer Stehlampe. Was tat ich eigentlich? Ich wusste gar nicht, was mit mir los war. Im Gegensatz dazu, dass ich gar nicht sprach, war sie überhaupt nicht mehr zurückhaltend. Jetzt kam sie mir faszinierend vor. Schon ihr Name klang viel beeindruckender als mein gewöhnliches "Christiane«.

Muriel begann zu erzählen. Endlos viel, und ich hörte zu. Sie erzählte, warum sie dieses Tuch trug und im Rollstuhl saß. Ich war erschüttert. Muriel hatte Leukämie. Warum musste denn so ein zartes und liebenswürdiges Wesen solch ein Schicksal erleiden?

Aus ihren Erzählungen konnte ich deutlich spüren, dass sie sich einsam fühlte. Gleichwohl war sie voller Lebensfreude und Hoffnung. Die endlosen Therapien und Klinikaufenthalte, die Enttäuschungen und Schmerzen hatten sie zwar ausgelaugt, aber doch auch stark gemacht.

Die Zeit verflog an diesem Nachmittag. Es war wie ein Film, den ich mir ansah. Sie saß in ihrem Rollstuhl am Fenster, erzählte und sah gar nicht mehr geheimnisvoll aus, sondern zierlich und reizend.

Schließlich verabschiedete ich mich. Als sie mir das Geld gab, sagte sie noch: »Ich trug auch einmal die Zeitung aus«, und blickte dann stumm auf ihre Beine. Sie begleitete mich noch zur Tür und sagte dann wieder etwas erleichtert: »Bis morgen. Du bringst doch wieder die Zeitung, oder?"