Oma, Max und Moritz

Lotte Schahacker, Daun

»Sie kommt bestimmt! Bestimmt kommt sie, es sei denn, sie hätte sich den Hals gebrochen!« Erbittert lief der Herr des Hauses im Wohnzimmer hin und her. Dann schämte er sich schnell ein bisschen, denn er war ein anständiger Mensch und liebte seine Mutter herzlich. Die alte Dame war auch sonst immer willkommen gewesen, ihm selbst und der ganzen Familie. Aber wer konnte denn ahnen, dass die modische Erziehung, zu der man sich hatte bekehren lassen, gerade heute diesen dramatischen Erfolg zeitigte.

In der Spielecke des Wohnraums nämlich versuchten die Jüngsten der Familie, genannt Max und Moritz, die knapp dreijährigen Zwillinge, sich gegenseitig mit urweltlichem Gebrüll die Haare auszureißen und die Ohren abzubeißen. Und das alles nur wegen eines Bauklötzchens, von dem Moritz behauptete, es gehöre ihm. Sie zeigten sich allen sanften, elterlichen Vorstellungen gegenüber unzugänglich. Was sollte man tun? Zwang ausüben und den Selbstbehauptungstrieb abdrosseln? Das widerspräche allen pädagogischen Einsichten, hatte man gelesen.

"Wären es doch eineiige Zwillinge geworden!» seufzte die Mutter, »dann hätten sie wenigstens die gleichen Chancen. Aber Max ist kräftiger als Moritz .. .« Und die Oma kam. Sonntags immer. Die einstige Lehrerin übersah mit Feldherrnblick die Sachlage, machte mit gekonntem Fusskantenschlag einen Klölzchenturm zur Ruine und brüllte den Zwillingen mit leistungsfähigem Mundwerk ihre Meinung in die Ohren. Worauf sofort erstauntes Stillschweigen eintrat. Die beiden benahmen sich plötzlich brav wie die lieben Engelein. Das gemeinsame Kaffeetrinken verlief in Harmonie. Die Zwillinge wirkten, als hätten sie das manierliche Essen schon in der Wiege gelernt. Einmal flüsterte Max ». . . zeihung" und kurz darauf Moritz ebenfalls. Offenbar spielten die beiden unter dem Tisch weiter Krieg. Mit ihren Füßen. Oma wurde rot vor Anstrengung, ein Lachen zu unterdrücken. Hinterher verzogen sich die Brüder ins Kinderzimmer, und die Erwachsenen saßen gemütlich beieinander. Wie immer. Und doch war es nicht wie immer. Irgendwer war hier wohl der Blamierte. So kam dann der Vater angelegentlich auf eine Artikelserie in der Tageszeitung zu sprechen, für die ein Mensch namens »der Kinderfreund" verantwortlich zeichnete. In ihr war die Rede von bösen Erziehungsschäden durch grausame Strafen, von der wahren Autorität und der angemaßten, von Komplexen und Hemmungen, von Traumen und Neurosen, von den Spätfolgen kränkender Herabsetzung, von verhinderter Selbständigkeit, hervorgerufen durch dauernde Bevormundung. Man sei übereingekommen, schloss er, sich nach den Ermahnungen aus berufenem Mund zu richten. Geduld ...

Oma hatte das impertinente Talent, Leute ausreden zu lassen, bis ihnen rein gar nichts mehr einfiel. Dann endlich: »Tja, wenn ich soeben die armen Bübchen durch Lautstärke misshandelt haben sollte, so habe ich mich ganz bewusst revanchiert. Ich bin ja bei meinem Eintritt ebenfalls arg attackiert worden. Meine Ohren, Augen und Nerven gehören doch auch zu meiner Person, oder etwa nicht? Jeder Säugling hat das Recht, sich in solchen Lagen zu wehren, so gut er kann. Weshalb ich nicht? Ich habe nirgendwo in diesen Artikeln gelesen, dass ausgerechnet ich den stillen Dulder spielen muss. (Oma bezog die gleiche Zeitung.] loh habe daher soeben eine Verständigung darüber angestrebt, wo die eine Person mitsamt ihrer Freiheit aufhört und wo die andere beginnt."

Oma war in ihr Schul-Hochdeutsch gerutscht, nun wurde es ernst. "Aber liebste Oma, gleich so zu ... äh ... kreischen!« Oma grinste und hob die Hand zum Zeichen, sie sei noch nicht fertig. »Und angestrebt habe ich besagte Verständigung auf dem in diesem Alter zweckmäßigen Weg, auf dem über die Haut, zu der das Trommelfell ja gehört. Ein- und Rücksicht sind für Dreijährige noch Fremdwörter. Die sind nicht angeboren, die müssen gelernt werden.«

»Aber dieses überholte autoritäre Prinzip .. .« »Merkt Ihr denn nicht, dass Ihr die Autorität nicht abgeschafft, sondern nur abgegeben habt? Jetzt hat Max sich ihrer bemächtigt und handhabt sie rigoros. Was beschädigt denn das kindliche Selbstwertgefühl wirklich, die natürliche Überlegenheit des Erwachsenen, von dem Kinder sich geliebt wissen — oder die des Gleichaltrigen? Was soll Moritz von einer Welt halten, in der selbst die Mutter ihm nicht hilft, wenn ihm Unrecht geschieht? Und was soll Max von einer Welt halten, in der selbst der Vater nicht zu wissen scheint, was gut und böse ist?" Der Sohn seufzte. Oma war ja lieb und nett, auch gescheit, aber was verstand die alte Dame schon von modernen Erziehungsmethoden?

»Das nächste Mal Werden wir es mit Ablenkung versuchen, das ist sicher die klügere Lösung!« wollte er das Thema beenden, »Ablenkung ist überhaupt keine Lösung, sie ist nur ein Aufschub. Wenn Ihr die beiden nur immer ablenken wollt von ihren Problemchen, könnt Ihr ihnen ja gleich Schnaps geben!« "Pssst!" machte die Mutter ein bisschen schadenfroh, "horcht mal, sie zanken sich wieder.« »Solange du noch 'Pssst' machen musst, damit man ihren Streit hören kann, ist ihre Welt intakt. Sicher müssen sie sich mal miteinander herumbalgen, aber doch nicht gleich so, dass das Haus wackelt und man sein eigenes Wort nicht verstehen kann. Und wenn zudem abzusehen ist, dass hier immer nur Max, der Stärkere, gewinnt.«

»Aber ich habe gelesen ...« versuchte der Vater noch einmal.

»Ich auch!« unterbrach ihn Oma, »Und was da in der Zeitung steht, ist schon ein alter Hut. Nur muss man das immer mal wieder durchnehmen. Denn allzu oft verwechseln Eltern junger Kinder die gelockerten Zügel mit hilfloser Bequemlichkeit. Zum Schaden aller! Kindern ist ein Anpfiff aus verständlichem und berechtigtem Ärger bekömmlicher, als dauernde, lahme Nachsicht. Ein Auge sollte man immer mal wieder zudrücken, aber auf Dauer nicht alle beide. Das ist der falsche Weg.

Das werden nächste Woche die letzten Sätze dieser Serie sein. Hoffentlich streicht mir die Redaktion die nicht!«