Eine unerwartete Begegnung

Wilma Herzog, Gerolstein

An jenem düsteren Novembertag fühlte ich die besondere Spannung schon, als ich die ausgetretenen Stufen an der Giebelseite des Hauses aus dem 16. Jahrhundert emporging und die gebogte Haustür, in der eigenartig spitzzulaufenden Steinumrandung, unter Knarren öffnete. Ich stand direkt in der steingefliesten Küche mit altersdunklen Gerätschaften an den Wänden. Kühl war es hier drinnen, das Feuer der offenen Herdstelle war erloschen. Leichter Russgeruch hing noch in der Luft. Da schlug die Tür auch schon laut hinter mir ins Schloss. Unwillkürlich drehte ich mich um, ich war allein im düsteren Raum.

Etwas Unerklärbares lag in der Atemluft des alten Hauses. Ob ich rufen sollte? Einfach: »Hallo! Ist jemand da?« Ich ließ es sein. Meine Augen gewöhnten sich rasch ans Dunkle und folgten der Lichtspur vom kleinen Fenster zur Treppe, die sich nach oben schwang. Von dort kam eine Stimme. Ich hielt einen Moment lang auf den Stufen an. Es war die angenehme Stimme einer jungen Frau. Ihr perlendes Lachen beruhigte mich. Ich atmete durch und stieg die letzten Stufen hinauf zum ersten Stock in der Gewissheit, dort die Frau anzutreffen. Im ersten Raum war sie nicht, also ging ich durch den zweiten. Die Gardinen bewegten sich. Sie war wohl gerade vorbeigegangen. Oder war es nur der Novemberwind, der durch die Fensterfugen blies?

Draußen schien es endlich aufzuhellen; Nachmittagssonne brach durch die kleinen Scheiben. Als ich ihren Strahlen folgte, mich zum Schreibpult drehte, sah ich sie. Sie war noch jung. Über ihrem schwarzen, altmodisch geschnittenen Kleid mit den starkgerafften Keulenärmeln trug sie ein Spitzenjäckchen. Ihr blondes Haar hatte sie hochgesteckt. Sprachlos stand ich vor ihr und schaute unverwandt in die großen Augen, mit dem sicheren Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein. Es wollte mir nicht einfallen, wo und wann, und ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie sie hieß. Dass sie aber etwas mit mir zu tun hatte, dessen war ich mir völlig sicher.

Man kennt das Gefühl. Da steht man jemandem gegenüber, weiß, irgendwann ist man sich begegnet und nun martert sich das Gehirn nach dem kleinsten Quentchen Erkenntnis. Aber die lässt einen völlig im Stich. Und dann, wie überspielt man die peinliche Situation, wenn kein Name einfallen will, nicht einmal mehr der Umstand, der einen mit diesem Menschen zusammengebracht hat? Meine Begegnung mit der Schwarzgekleideten war viel einfacher. Die ernste junge Dame sah mich aus einem Bild an, aus einem alten Fotoalbum, das aufgeschlagen auf dem Biedermeier-Schreibpult lag. 'Hätte sie aber in Wirklichkeit dort gestanden, die Begegnung wäre kaum weniger aufregend gewesen. Da stand ich nun, über das Album gebeugt und prägte mir jede Einzelheit dieses Gesichtes ein. Immer wieder dachte ich, ich kenne Dich. Ich werde schon noch he/ausfinden, wer Du bist und was Du mit mir zu tun hast.

Jetzt kamen Stimmen näher, aus einem rückwärtigen Raum erschien eine Gruppe holländischer Jugendlicher, sie gingen die steile Treppe hinab und verließen das Haus. Die unerwartete Begegnung mit der jungen Dame beschäftigte mich derart, dass mich nichts anderes mehr im Kreisheimatmuseum in Gerolstein interessierte. Nicht schnell genug kam ich heim und auf den Speicher, holte den aus Weiden gefertigten Reisekoffer mit alten Andenken herunter, den hatte ich vor dem Verkauf unseres Elternhauses zu mir herübergerettet. Stehenden Fußes blätterte ich durch den Karton mit alten bildern. Da war es: Das Foto der jungen schwarzgekleideten Dame, das gleiche wie im Heimatmuseum.

Wann hatte ich es zuletzt gesehen? War das nicht schon Jahrzehnte her? Ich drehte das Bild um, suchte vergeblich den geringsten Anhaltspunkt. Wen könnte ich fragen? Eltern und Großeltern sind längst tot, die hätten Auskunft geben können. Also wusste ich nicht mehr als das, was auf dem Foto aufgedruckt war, dass dieses Bild, wohl im vorigen Jahrhundert, von Geo. F. Riel in Nr. 339 der West Madison Street in Chicago gemacht wurde. Wie aber kam es nach Deutschland zu unseren Familienbildern? Irgendwie musste die rätselhafte Dame mit mir zu tun haben. Ich rahmte das Abbild und stellte es auf den Wohnzimmerschrank. Ein Jahr verging, ohne dass ich der Lösung des Rätsels näher kam. Wieder war November. Da kam Tante Clara herüber zu mir und gab mir einen dicken Umschlag. Ihr war meine Vorliebe für antike Dinge bekannt. Sie hatte alte Familienfotos und Briefe aussortiert, meinte, es werde doch alles fortgeworfen, wenn sie einmal nicht mehr sei.

Und was für Schätze gab sie mir, die ich jetzt mit der Lupe eingehend betrachtete! Nie zuvor gesehene Kinderbilder meines Vaters, Fotos der 1923 ausgewiesenen Gerolsteiner Eisenbahnfamilien in Bad Lippspringe. Mein Großvater, damals im Alter von 51 Jahren - so jung hatte ich ihn noch nie gesehen. Und dann lag es vor mir, das Bild der jungen Dame aus Chicago; das dritte gleiche Foto. Als ich es umdrehte, sah ich die bekannte Handschrift von Onkel Peter. Mit Tinte hatte er auf der Rückseite notiert: Gretchen Eis, Schwester von Vater, geboren in Gerolstein. Nun war das Rätsel gelöst. Die schwarzgekleidete junge Dame war meine Großtante Gretchen. Lange betrachtete ich das Gesicht der jungen Frau und hielt regelrecht Zwiesprache mit ihr. Auch sie war in Gerolstein geboren und ausgewandert, ihr Glück in Amerika zu suchen. Ob sie es dort fand?

In Gedanken weiter mit ihr beschäftigt, untersuchte ich den Rest aus dem Umschlag. Da fiel aus einem Kuvert mit amerikanischer Briefmarke ein breit umrandeter Totenzettel zu Boden. Er war in deutscher Sprache gedruckt, in Chicago. Ich las: Margarethe Eis. geboren zu Gerolstein, Rheinprovinz am 1. November 1866. Meine Freude, endlich den Namen der Unbekannten entdeckt zu haben und dazu, dass sie mit mir verwandt war, wich und machte der Trauer Platz. Großtante Gretchen fand kein Glück in Amerika, sondern an einem der schwülheißen Chicagoer Tage, am 16. Juli 1898, noch keine 32 Jahre alt, fern der Heimat, einen allzu frühen Tod.