FREYHEIT

oder »... das Käferlein, das Vögelein darf sich wohl auch des Maien freu'n« Alexej Sesterheim, Sterup

So sang meine Hellen Oma Anfang der fünfziger Jahre, wenn sie in ihrem Hof die Kartoffeln schälte. Ich weiß nicht, wie ernst sie es mit diesen Worten meinte - jedenfalls stimmte damals noch die Gedichtzeile: "Ein Leben war's im Ährenfeld..." und unsere ländliche Natur quoll förmlich über von Maikäfern, Weinbergschnecken, Kaulquappen, Molchen. Und wenn die Dreschmaschine im August brummte und bei jeder eingeworfenen Garbe aufstöhnend ihren Ton senkte, dann rieselte nicht nur »Koor. Weiz, Haawer oder Jeersch« in die Säcke, dann ruckte sie nicht nur vorne "de Strühballe erüß« und blies aus dem seitlichen Rohr »de Kaaf« zu abenteuerlichen Bergen auf, sondern an der Seite, wo die Schüttelsiebe die Unkraulsamen aussortierten, kam eine Vielzahl verschiedenster Käfer in schillernden Farben ans Tageslicht, die ihre Irrfahrt durch das elektrisch getriebene Ungetüm meist erstaunlich gut überstanden hatten.

Auch wenn es mit schwerer Arbeit verbunden war, war es doch eindeutig ein Fest für jung und alt, für Mensch und Natur, wenn die von zwei Kühen gezogenen Erntewagen - anfangs gar noch mit den eisenumspannten schon in keltischer Zeit benutzten Speichen rädern - ihre stolze von Leiter, Wiesbaum und Seil gehaltene Ladung bedächtig schwankend auf den Dreschplatz brachten und sich in Reihen und Trauben dort scharten.

«Es dunkelte noch in der Heide..." - die Uhren wurden noch nicht auf Sommerzeit gestellt, und so waren für die Kinder in der Dämmerung die tollsten Nachlauf- und Versteckspiele »ön-ner, zweschen onn opp all dene Wöön met Fruuch« angesagt. Wenn uns damals jemand gesagt hätte, dass das alles fünfzehn oder zwanzig Jahre später wie ein Rauch verflogen sei, - wir hätten ihn für wahnsinnig gehalten. Das gelehrte Wort »Subsistenzlandwirtschaft« hatte wohl in der ganzen Eifel noch niemand ausgesprochen oder gehört, wahrscheinlich wurde es gerade erst erfunden. Dennoch oder gerade deswegen war diese Lebensform für

fast alle Dorfbewohner - nicht nur in der Eifel - nicht nur in ganz Deutschland - nicht nur in ganz Europa, sondern in den meisten Teilen der Welt die Lebensgrundlage schlechthin, und wenn wir in der Kirche beteten: »...von Ewigkeit zu Ewigkeit«, dann schien das auch für unsere Landwirtschaft zu gelten: Sie war der althergebrachte Boden, auf den die Menschen selbst nach dem zerstörerischsten aller Kriege so sicher zurückfallen konnten wie eine Katze auf ihre vier Beine. Diese Grundlage gewährleistete schon seit Jahrtausenden die Nahrung und Energie für den Tanz des Lebens, ohne dass dadurch je die Zukunft kommender Generationen in Frage gestellt worden wäre. Auch heute hält Mutter Erde dieses Angebot für unabsehbare Zeiten für uns bereit. Aber wenn ein Fest so schnell verweht wie unsere uralten im Rhythmus der Jahreszeiten und des natürlichen Wachstums stehenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten und Bräuche, dann muss schon damals, noch vor dem Kehraus der Kleinlandwirte, etwas an dem Fest nicht gestimmt haben, und auch in das Lied meiner Großmutter müssen bereits falsche Töne gemischt gewesen sein!

Bald gab es kein Distelstechen mehr, statt dessen den süßlichen Geruch von Pflanzenschutzmitteln. Bald roch ich nicht mehr den Atem und Schweiß der Kühe, »Kappezoum onn Jauch, Tasshaame, Kaneck onn Hotz onn Haar« sind fast vergessen. Eine Zeitlang atmete ich noch die Auspuffgase vom Traktor, doch bald war die Ernte nur noch eine Angelegenheit für den Mähdrescher, bis sie nach einem weiteren Jahrzehnt für fast alle ganz weggefallen ist. Als ich es Ende der sechziger Jahre zu meinem ersten Auto gebracht hatte, war der Kühlergrill anfangs noch voller Insekten. Der Gedanke, dass jedes dieser Tiere einen Schöpfer hatte und zum Leben bestimmt war wie ich, war mir reichlich fremd. Sie waren eine lästige und zähe Schmutzquelle für die verchromten Leisten und zum Glück gab es zur Reinigung spezielle Sprühflaschen der Putzmittelindustrie.

Während meines Lebens in der Stadt bekam ich mit, dass die Maikäfer fast ausgerottet waren, und wenn ich mir heute die Vorderseite der noch viel schneller und zahlreicher gewordenen Kraftfahrzeuge ansehe, dann weiß ich, wie drastisch die Zahl der Insekten abgenommen hat. Ob ich schon begriffen habe, was das für meine eigene Gesundheit und Lebenskraft bedeutet? Heute, als Erwachsener, bin ich bestens darüber informiert, wie die Grundlagen unserer Kultur, das natürliche Miteinander der Stammesvölker durch die Einführung der Sklaverei und die anschließende Tarnung und Effektivierung der Unterdrückung immer weiter zerrüttet wurde und sich in ein Gegeneinander verwandelte. So wurden auf geistiger und mitmenschlicher Ebene die Wurzeln der traditionellen Lebensweise immer tiefer abgeschnitten. Was wir in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts erleben, ist der daraus zwangsläufig folgende Zusammenbruch der alten Kultur auf der sichtbaren, materiellen Ebene. Doch auch am Horizont meines Kinder-Heile-Welt-Himmels der fünfziger Jahre gab es bereits Zeichen, Brüche und Risse, die mich und uns alle zürn Umkehren mahnten und die das auch heute noch tun können: Es war vielleicht 1959, da geschah etwas, das ließ die Menschen meiner ganzen Gegend aufhorchen. Ich war, ohne es zu ahnen, schon auf dem Weg des Fort-Schritts, fort vom Dorf, fort von der Natur, ich ging zur sogenannten »höheren« Schule.

Als ich eines Tages von der langen täglichen Bahnfahrt aus Adenau zurückkam, war meine Mutter ganz aufgeregt. In ihrem und meinem Geburtsort, acht Kilometer weiter, wo man »Koorlänner Platt« spricht - »Mer steche, datt de Knoche koche« statt wie bei uns »Mer stauche datt de Knauche kauche« - dort war Unerhörtes geschehen. Einem Bauern war eine prämierte Kuh beim Auf- oder Abladen vom Viehtransporter gehüpft und davongallopiert. Weder mit gutem Zureden noch mit Drohungen und List konnten der Bauer und seine Helfer das Tier von Melkmaschine, jährlichem Kalben und schliesslichem Geschlachtet werden überzeugen. Mehr als ein halbes Jahr lang, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, wurden mir die neuesten Nachrichten von der entlaufenen Kuh mit aufgetischt: in welchem Waldstück man sie zuletzt gesehen, wie man sie fast gefangen, wo der Jäger sie beinahe getroffen hätte. Was mag das Thema mit meiner Mutter zu tun gehabt haben, dass es sie so faszinierte? Wenn ich überlege, bei welchen Gelegenheiten sie außerdem noch besonders intensive Gefühle zeigte, SO kommt mir neben ihren Wutanfällen gegen ihre Kinder in den Sinn, dass ich sie als kleiner Junge einmal sehr traurig bei der Gartenarbeit erlebte. Sie sang doch tatsächlich: "Ein Jäger zielt schon hinter einem Baum - das war des Rehleins letzter Lebenstraum.« Das war schon erschreckend genug für einen Fünfjährigen, doch dann war ich noch verwirrter, denn: »...da trat der Jäger aus dem Waldessaum und sprach: »Das Leben ist ja nur ein Traum." Für mich war es das erste und einzige Mal, dass meine Mutter ihre Trauer offen zeigte und nicht hinter Pflicht und Härte versteckte. Vorsichtig fragte ich sie: »Es dann et Lewwe wirklech nur en Traum?« Sie muss sich wohl ertappt gefühlt haben, denn sofort verschwand alles, was an Gefühl dagewesen war. Heute vermute ich, dass sie fürchtete, sich der eigenen Verzweiflung und Gefangenschaft bewusst zu werden oder sie jemand anderem zu zeigen. Als aber ein paar Jahre später die Kuh in Borler das Unerhörte in die Tat umsetzte, zeigte sich an ihrem (und meinem) Interesse ihre (und meine) Freiheitssehnsucht wieder. Noch ein paar Jahre darauf »Opp der Dorefmuseck«, die zum Glück nicht völlig und ersatzlos verschwunden ist, lernte ich die vierte Strophe »ihres« Liedes kennen:

»Die Jugendjahre sind schon längst entfloh'n, die ich erlebt als junger Waidmannssohn. Er nahm die Büchse, schlug sie an ein Baum und sprach: »Das Leben ist ja nur ein Traum.« Sie wollen wissen, wie die Geschichte mit der Kuh ausgegangen ist? Sie hat sogar den Winter mit viel Schnee in den Wäldern überlebt - nicht jedoch die Missgunst der Menschen. Ein Jäger hat sie schließlich erschossen. Ob das heute anders wäre?

- Aber zeigt sich nicht selbst in diesem Erschießen - wenn auch in verborgener Form - das unerhört starke Interesse des Jägers an dem Thema »Freiheit«?

- Wie steht es mit meinem eigenen Freiheitsdrang? Wie oft erschieße ich noch mein eigenes inneres »Rehlein«, das so gern »aus einem klaren Bach« trinken würde?

- Machen wir es wirklich, wie die Kuh, die entschlossen die Freiheit wählte und wie der Jäger in dem Lied, der sich für sein Herz entschied, aus seinen Fehlern lernte und umkehrte {= Büßte tat)?

- Darf in meiner Umgebung schon jeder denken, fühlen und sagen, was er will, ohne dafür verachtet zu werden, was ja einem seelischen Erschießen nahekommt? Wie viele Menschen nehmen uns als Erwachsene unsere bloßen Gedanken und Fragen übel, und wieviele Male schutzloser waren wir als aufgeweckte Kinder dieser Unterdrückung ausgeliefert?

Seit 50 Jahren sind wir von offenem Krieg verschont und haben so die Chance, uns zu besinnen, wo denn die geistigen Ursachen für den Zusammenbruch der alten umweltverträglichen Lebensweise liegen. Wie konnte es geschehen, dass wir der Schöpfung, belebter wie unbelebter, keine Hohe Acht mehr entgegenbrachten und damit auch den Schöpfer nicht respektieren? Wenn wir es ihm nicht gleich wieder in die Schuhe schieben und sein Geschöpft, den Menschen, und damit uns selber, als von Natur aus schlecht ansehen, dann müssen wir die Verantwortung für die Respektlosigkeit und das zerstörerische Handeln der Erwachsenen bei uns, nämlich in der Erziehung suchen, die wir den Kindern angetan haben. Ich richte diese Frage an meine Leser: Gibt es ein Ereignis, das den Respekt vor dem Leben und der Freiheit tiefer zerstören und verstören kann, als wenn der heilige und freie Wille eines wehrlosen Kindes missachtet, verhöhnt, verbogen und unterworfen wird? Und um wie vieles schlimmer ist es, wenn dies ausgerechnet von den Menschen, den Eltern und Lehrern ausgeht, die doch dem Kind von der Schöpfungsordnung her unverbrüchlichen Schutz, Respekt, Ehrlichkeit und Ermutigung für ein gerades Rückgrat entgegenbringen sollten? Gebrochene Kinder haben kein Selbstbewusstsein, dürfen nicht wissen, was sie selber vom Leben wollen, lassen sich leicht führen, jahrtausendealte lebensnotwendige Traditionen aus den Händen reißen oder hängen sie selbst freiwillig an den Nagel, in der Hoffnung, so ihrer schlimmen Vergangenheit entkommen zu können. Solche Kinder haben eingetrichtert bekommen, wie schlecht und unvollkommen sie doch seien und suchen folglich Hilfe bei Machtmenschen und Führerfiguren. Aus solcher Erziehung entspringen tiefe Minderwertigkeitsgefühle, die wir mehr oder weniger alle - solange wir uns nicht darüber bewusst werden - durch Statussymbole, Wissen, Macht und Besitz auszugleichen suchen:

Noch eine alte Weisheit - »je mehr er hat, je mehr er will, nie schweigen seine Klagen still«. Auch diese Zeilen stehen in dem Lied, das ich von meiner Großmutter lernte. Sie sind fürwahr eine frühe und treffende Charakterisierung der Ziel- und Bö den los ig keil unseres Aberglaubens an den Fortschritt. Ein Volk, das nicht einmal die schwächsten der Gesellschaft respektiert, beweist damit, wie kopflos es ist und erzeugt eben diese Kopflosigkeit und Hass in jeder Generation neu. Es landet zwangsläufig in einer besinnungslosen Flucht. Wohin? Die wunderbare Chance, dies zu ändern und dabei auch selber glücklich zu werden, liegt in der Entscheidungsfreiheil eines jeden Erwachsenen. Kein Papst, kein Kaiser noch Tribun kann uns daran hindern, die alte Volksweisheit »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich» endlich wieder auf die schwächsten und wertvollsten unserer Gesellschaft, auf die Kinder, anzuwenden. Wir können es nur selber tun. Ein Mensch, der als Kind wenigstens einen Erwachsenen als Freund hatte, der ohne Bedingung zu ihm stand, der ihm sozusagen ein »Diener" war, ein solcher Mensch wird nicht besinnungslos alles hinnehmen, was ihm angeboten wird und nicht von dem Wunsch besessen sein, koste es, was es wolle, in ganz anderen Zusammenhängen zu leben wie die vorige Generation. Es liegt bei uns, ob wir die Kinder vor jedem noch so geschickt versteckten Druck beschützen und sie wissen lassen, dass Lebensfreude, Gesundheit und menschliche Würde unendlich wichtiger sind als Gift und Pflicht und Fortschritt. Nur wenn wir so das Band zwischen den Generationen wieder entknoten, wenn Eltern wieder für die Kinder da sind, statt Umgekehrtes zu erwarten, wenn die Achtung vor dem Kind ihnen wieder über alles geht, dann wird auch echte, lebenserhaltende Tradition wieder selbstverständlich. Je mehr ein Mensch als Kind »sich wohl auch des Maien freu'n« durfte, desto eher wird er dies auch den Schwachen, den Käferlein, den Alten, den Fremden gönnen und ermöglichen und so den Frieden und den Tanz des Lebens schützen und fördern.