Der Versehgang

Stefan Schneider, Beinhausen

Früher musste ein Messdiener den Pastor bei einem Versehgang begleiten. Da ich in der Nähe des Pfarrhauses wohnte, kam es des öfteren vor, dass der Pastor mich rufen kam, um zusammen mit ihm mal wieder einen solchen Gang zu tun. Ganz gleich aus welchem der sieben Dörfer der Pfarrei der Pastor zu einem Schwerkranken oder gar Sterbenden gerufen war, erst musste das Allerheiligste, das im Tabernakel der Kirche aufbewahrt wurde, von dort geholt werden. Das hieß für den Pastor und mich, zuerst den Berg hinauf nach Hilgerath zu keuchen, denn meistens war ja bei einem Versehgang Eile geboten, und damals war man noch nicht motorisiert!

Diesmal muss der Ruf nach dem Pfarrer besonders eilig geklungen haben, denn er zeigte sich ziemlich aufgeregt, als er mich zum Versehgang holen kam. In diesen Fällen hatte man zu Hause nichts dagegen, wenn ich alles stehen und liegen ließ und dem Pastor auf dem Fuße folgte. Man war sich bewusst, dass jeder einmal den letzten Gang antreten musste, und da man damals die Sakramente der Kirche noch hoch achtete, hätte man es als Todsünde empfunden, wäre durch ein Versäumnis des Messdieners der Sterbende um den Segen der »Letzten Ölung" gekommen.

Unterwegs nach Hilgerath erklärte mir der Pastor, diesmal ginge es nach Gefeil. Das war von den sieben Dörfern, die der Pfarrei zugehörten, am weitesten entfernt; eine gute Stunde Fußmarsch, und schon jetzt, als wir in der Sakristei ankamen, waren wir beide durch den schnellen Aufstieg zur Kirche ein wenig außer Atem. Normalerweise benötigte man von unserem Haus aus den Berg hinauf nach Hilgerath knappe zehn Minuten. Heute hatten wir die Strecke in weniger als der Hälfte dieser Zeit geschafft. Alle Achtung, der Pastor schien noch gut zu Fuß zu sein!

Während er einen weißen Chorrock und einen breiten, schwarzen Kragen anlegte, darüber die schwarze Stola, zog auch ich einen weißen Röckel an, dazu aber einen roten Kragen. Die Versehlaterne hatte ich schon vorher gerichtet, die Kerze darin brannte. Sie war nichts anderes als eine Sturmlaterne mit verlängertem Tragbügel, an dem ein Glöckchen angebracht war. Das Glöckchen hielt der Messdiener, dessen Aufgabe es war, vor dem Priester, der das Allerheiligste trug, mit der Laterne herzugehen, in der Regel mit einem Finger fest. Tauchten aber Leute im Vorbeigehen auf, wurde das Glöckchen losgelassen. Sein helles Bimmeln sollte jeden darauf aufmerksam machen, dass hier ein Priester mit dem Allerheiligsten unterwegs war. um einem aufs Sterben Erkrankten beizustehen und ihm die letzte Wegzehrung zu bringen. Beim Ertönen des Versehglöckchens hielt jedermann in seiner Tätigkeit inne, kniete nieder, wobei die Männer die Kopfbedeckung abnahmen, bekreuzigte sich und sprach ein leises Gebet, bis Priester und Messdiener vorbei waren. Im Dorf selbst ließ man das Glöckchen durchgehend bimmeln. Manchmal musste man nachhelfen und ein wenig mit der Laterne wackeln. Wie oft oder wie heftig das geschah, war vom Temperament des Messdieners abhängig.

Nun traten wir an den Altar. Der Priester entnahm dem Kommunionkelch aus dem Tabernakel eine geweihte Hostie und legte sie in die Burse, eine Art Tasche, die mit einer Schnur um den Hals getragen wurde. Damit sie unterwegs nicht vor der Brust des Priesters hin und her baumelte, hielt dieser sie mit einer oder beiden Händen fest. Das beeinträchtigte natürlich die Beweglichkeit des Priesters, zumal dieser heute auf dem Weg nach Gefell, immer wieder zur Eile mahnend, zum Laufschritt animierte. Nur wenn es zu sehr bergauf ging, verfielen wir in einen beschleunigten Schritt. Ich war nicht wenig stolz darüber, mit meinen elf Jahren sowohl beim Laufen als auch beim beschleunigten Gehen schneller zu sein und weniger außer Atem zu geraten als der Pastor mit seinen 40 Jahren! Die ersten Häuser des Dorfes tauchten auf. Vorsichtshalber ließ ich bereits jetzt das Glöckchen bimmeln, obwohl noch kein Mensch zu sehen war. Bald aber wurden uns die Gefeller hören können. Da ich nicht wusste, wo der Kranke wohnte, dirigierte mich der Pastor zum Haus hin. Beim Betreten sprach er den Segensgruß. Das geschah damals noch alles in lateinischer Sprache. Den lateinischen Segensspruch des Priesters kenne ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass er in deutscher Sprache lautetet: «Friede sei diesem Hause!" Was der Messdiener in lateinischer Sprache zu antworten hatte, weiß ich noch ganz genau: "Et omnibus habitantibus in eo«, zu deutsch: »Und allen, die darin wohnen!«

Der Kranke lag in der Stubenkammer. Um das Krankenbett waren alle Angehörigen versammelt. Ein Tisch war in die Kammer hineingestellt worden, auf dem ein Kruzifix und zwei brennende Kerzen standen, auch zwei mit Wasser gefüllte Trinkgläser, von denen das eine Trinkwasser enthielt, das andere Weihwasser. Das Glas mit dem Weihwasser erkannte man daran, dass sich in ihm ein Palmzweig befand, mit dem der Priester unmittelbar nach Eintritt in das Zimmer den Kranken besprengte. Nun legte er die Burse mit der geweihten Hostie auf den Tisch vor das Kruzifix. Zuvor hatte er noch drei auf dem Tisch befindliche Schälchen zurechtgerückt. In dem einen lagen fünf Wattebäuschchen, das zweite enthielt etwas mehr als einen Esslöffel Salz, auf dem dritten lag eine kleine Scheibe Brot ohne Kruste. Nun nahm der Priester dem Kranken die Beichte ab. Dazu mussten die Angehörigen und der Messdiener das Krankenzimmer verlassen. Draußen, vor der verschlossenen Tür, beteten sie den Rosenkranz; ziemlich laut, damit aus der Kammer nichts zu hören war. Nach erfolgter Beichte öffnete der Priester die Tür, alle konnten wieder eintreten und Aufstellung um das Krankenbett nehmen. Der Messdiener kniete nieder und betete laut das »Confiteor« (Sündenbekenntnis). Darauf folgten die Kommuniongebete und der Kranke empfing die heilige Wegzehrung. Meist reichte der Priester nur ein kleines Stück der Hostie, das häufig mit einem Schluck Wasser eingenommen werden musste, je nachdem wie gut oder wie schlecht zu schlucken der Kranke in der Lage war. Nach einem gemeinsamen Gebet und einer Weile stillen Besinnens wurde die Krankensalbung, die »Letzte Ölung", gespendet. Der Priester tauchte den Daumen der rechten Hand in den kleinen, silbernen Behälter mit dem heiligen Öl und bestrich damit zunächst die Augen des Kranken, wobei er sprach: »Durch diese heilige Salbung und seine mildreiche Barmherzigkeit vergebe Dir der Herr, was Du gesündigt hast durch Sehen.« In der Reihenfolge wurden in gleicher Weise Nase, Mund, beide Ohren, die Hände und die Füße gesalbt, wobei um Vergebung der Sünden gebetet wurde, die durch die jeweiligen Sinne jemals begangen worden waren. Das auf die einzelnen Sinnesorgane gestrichene heilige Öl wischte der Priester jeweils mit einem der fünf Wattebäuschchen wieder ab. Die eigenen Finger reinigte er nach vollzogener Krankensalbung mit dem Salz und dem Brot aus den beiden Schälchen vom Tisch. Salz und Brot wurden nach der Handreinigung zusammen mit den Wattebäuschchen im Ofen verbrannt. Ganz zum Schluss spendete der Priester dem Kranken noch den sogenannten »Krankensegen«, der auch der "Päpstliche Segen« hieß. Nun hatte er alles von seiner Kirche empfangen, was er auf dem letzten Weg brauchte. Priester und Messdiener legten ihre liturgischen Gewänder ab und konnten nun, mit diesen auf dem Arm. den Heimweg antreten. Jetzt hatten wir es nicht mehr so eilig. Der Pastor benutzte den Heimweg dazu, sein Brevier zu beten; ich malte mir aus, was ich mit der einen Mark alles anfangen könnte, die mir der Hausherr geschenkt hatte, bevor er sich bei uns bedankte und uns einen guten Nachhauseweg wünschte.

Noch oft war ich als Messdiener bei Versehgängen dabei, nicht ein einziges Mal mehr habe ich ein solches Geldgeschenk erhalten, das für mich seinerzeit ein kleines Vermögen bedeutete. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass mir der Versehgang nach Gefell so besonders in Erinnerung geblieben ist.