MORITZCHEN

Hildegard Dümmer. Hillesheim

Ein Erlebnis aus meiner frühen Kindheit hat mich lange Zeit sehr beschäftigt. Es muss wohl in den ersten Kriegsjahren gewesen sein, denn ich ging noch nicht zur Schule, als uns von Zeit zu Zeit ein kleiner, stiller, stets dunkel gekleideter Mann besuchte und seine Ware anbot. Sein Verkaufskoffer, die Tasche und sein schwarzer, breitrandiger Hut waren die äußeren Erkennungsmerkmale. Sein Name war Moritz. Ob dies nun sein Vor- oder sein Familienname war, konnte ich trotz mehrerer Recherchen nicht mehr erfahren. Von der hiesigen Landbevölkerung wurde er wegen seiner geringen Körpergröße schlicht und einfach »Moritzchen" genannt.

Moritz war ein Hausierer. Sein Warenangebot umfasste neben Kurzwaren, kleineren Wäschestücken, Haarspangen und Schmuck auch fromme Bücher und Devotionalien. Von den Dorfbewohnern wurde er wegen seiner Bescheidenheit und Zurückhaltung allseits geachtet. Niemals aufdringlich, jedoch stets freundlich und zuvorkommend, war er auch bei uns Kindern sehr beliebt. Wir freuten uns, wenn wir ihn die Dorfstraße herunter kommen sahen und liefen ihm voraus, um seinen Besuch anzukündigen. Voller Spannung standen wir dann um den Küchentisch herum und warteten sehnsüchtig auf das Öffnen des schwarzen Koffers. Wir konnten unsere neugierigen Blicke von dem buntglitzernden Inhalt nicht abwenden.

Moritz verließ unser Haus selten, ohne dass meine Mutter einen Kauf getätigt hatte, denn sie war eine seiner treuesten Kundinnen. Manchmal erstand sie auch für uns Kinder eine Kleinigkeit, wenn ein besonderer Anlass, ein Fest oder ein Namenstag bevorstand. Wie konnten wir uns dann über ein Glanzbildchen, eine Haarspange oder sogar einen silbernen Armreif oder ein Kettchen mit Anhänger freuen! Der Besuch dieses kleinen stillen Mannes war stets eine willkommene Abwechslung in unserem oft so ereignislosen Dorfalltag. Eines Tages, es war eine längere Zeit verstrichen, wir Kinder spielten draußen im Hof, sahen wir wieder die kleine schwarze Gestalt die Straße herunterkommen. Doch nicht leichten Schrittes, sondern langsam, schleppend, ja fast zögerlich näherte er sich uns. Es war Moritz. Als wir ihn erkannten, liefen wir ihm nicht wie sonst entgegen, sondern stoben verschreckt auseinander und suchten das Weite. Voller Angst rannte ich ins Haus und kroch eilig unter die Holzbank in unserer Wohnküche, um mich dort zu verstecken. Scheu und sich vorsichtig umblickend betrat Moritz den Raum und legte seinen Warenkoffer auf den Tisch. Er war nicht wie sonst, nicht mehr so leger und selbstsicher. Seine ehemals elegante Kleidung wirkte schäbig und abgetragen. Auch das Verhalten meiner Mutter war etwas seltsam. Beide wirkten ängstlich und unsicher und sprachen nur im Flüsterton miteinander. Ich konnte ihre Unterhaltung nicht verstehen und wagte kaum zu atmen, aus Furcht entdeckt zu werden. Doch plötzlich muss meine Mutter wohl das leise Schluchzen und Weinen vernommen haben und zog mich unter der Bank hervor. Auf die Frage nach dem Grund meines eigenartigen Verhaltens musste ich ihr wahrheitsgemäß antworten, dass dies aus Furcht vor Moritz geschehen sei. Im Dorf hätte man erzählt, dass er die kleinen Kinder mitnähme und sie verkaufte. Der kleine Mann schien bei meinen Worten noch kleiner zu werden und wirkte auf einmal ganz traurig. Meine Mutter war entsetzt ob meiner Rede und wies mich ärgerlich zurecht. Sie tat das Geschwätz der Leute als Lüge ab und forderte mich auf. den Gast höflich zu begrüßen, wie ich es auch sonst immer getan hatte. Verstohlen wischte ich mir die Tränen aus den Augen und reichte ihm meine kleine Hand. Da griff er in seine Tasche, zog einen silbernen Ring hervor und reichte ihn mir. Voller Scham wollte ich das Geschenk zurückweisen. Erst auf das Zureden meiner Mutter hin willigte ich ein und ließ mir den Ring mit dem roten Stein an den Finger stecken. Verlegen betrachtete ich das hübsche Schmuckstück und schämte mich wegen meines ungezogenen Verhaltens diesem freundlichen Herrn gegenüber.

Hastig verabschiedete er sich von uns und verließ eilends, fast fluchtartig das Haus. Seit diesem Tag sahen wir ihn nicht wieder. Doch der kleine silberne Ring mit dem leuchtend roten Stein erinnerte mich noch oft an diese letzte Begegnung mit »Moritzchen«. Ich konnte mir lange nicht erklären, weshalb ich bei seinem Anblick so abweisend reagierte. Erst sehr viel später - ich war schon fast erwachsen - wurde mir einiges klar: Moritz war Jude.

Noch heute muss ich oft an diese Begebenheit denken. Dann habe ich wieder den kleinen Mann mit dem schwarzen Hut vor Augen und manchmal glaube ich auch, einen schwachen gelben Schein in Form eines Sterns auf dem linken Revers seines abgetragenen schwarzen Anzugs zu erkennen.

Dann beschleicht mich jedes Mal dieses ungute Gefühl von Scham und Beklemmung.