Was junge Leute interessiert

Eine Stadtführung oder -Begegnung mit der Vergangenheit

Felicitas Schulz. Hillesheim

Wo hat die Frau so schnell Russisch gelernt, fragten Igor und Aljoscha meine Assistentin Ilona, die mich gewandt bei meiner angebotenen Hillesheimer Stadtführung in Russisch an einem Spätsommertag begleitete. Nach dem Wegfall des eisernen Vorhanges kamen zwanzig Kinder mit Dolmetscherin und Kinderärztin aus Weißrussland in die Eifel. Sie waren durch das Tschernobyl-Reaktorunglück strahlengeschädigt und litten allesamt, mehr oder weniger, unter nachhaltigen Auswirkungen der Katastrophe. Auf Einladung einer beispielhaften und für die kommenden Jahre wegweisenden Initiative des Turn- und Sportvereins Ahbach nebst vielen Spendern durften die neun- bis 16jährigen Kinder drei wundervolle Wochen bei aufopfernden Gasteltern in den Orten Niederehe, Kerpen, Üxheim, Leudersdorf und Nohn verbringen.

Zur Freizeitgestaltung wurden Vorschläge gesucht. Auch ich las diesen so herzlich gehaltenen Aufruf aus Niederehe und meldete mich spontan, um eine Stadtführung durch die europäische Beispielstadt Hillesheim in Russisch anzubieten. Die Freude meines Ansprechpartners darüber spürte ich am Telefon. In meiner Schulzeit hatte ich einige Jahre die russische Sprache lernen müssen. Viele Jahre, ja Jahrzehnte lagen seit meiner letzten Russischlektüre zurück. Die ehemals mir vertrauten kyrillischen Buchstaben konnte ich nicht mehr alle exakt einordnen. Was nun? Da kam, wie auf Engels Flügeln Ilona, eine junge selbstbewusste Aussiedlerin aus dem fernen Kirgisien zu Hilfe. Die darauffolgende kurze Zeit, die uns bis zum Eintreffen der Gäste noch blieb, nutzten wir zu mehreren Führungen im Stadikern. Ilona schrieb jede Erklärung, die ich abgab, auf ihren Block nieder. Später bekam ich von ihr fein leserlich die Passagen, die weniger schwierig in der von mir nun gewählten Lautschrift. Ilona, die ja fließend russisch sprechen konnte, übernahm die mit Zahlen und längeren Erklärungen ausgearbeitete Stadtführung.

Der Tag des Rundganges brach an. Die Kinder mit ihrer Ärztin und Dolmetscherin trafen mit dem eigens für sie abgestellen Busfahrer in Hillesheim ein. Etwas bang war es uns beiden schon, aber das Sprichwort "Alles Neue macht Angst« hatte an jenem Morgen seine Berechtigung.

Mutig begann ich laut und deutlich in ihrer Muttersprache: »Dapro paschaluweit und Straßwutje daragie ribiata«. Nach diesem herzlich Willkommen und Guten Tag liebe Kinder, waren die Gäste vorerst überrascht und lauschten den Erklärungen von uns beiden. Selten meldete sich die Dolmetscherin zwischendurch. Die Stadtführung hatte ich mit Bedacht in einem größeren geschichtlichen Radius um Hillesheim angesiedelt, was positiv in der Resonanz einzelner älterer Kinder zu spüren war. Ja, die Römer kannten sie und auch vom Reich des großen Karl hatten sie gehört. Bei ihnen im vergangenen Zarenreich gab es ebenfalls Überfälle. Kriege, Not und Elend. Das Städtchen gefiel den Kindern sehr gut; alles so sauber, es ist wie in einem Film, sagten sie übereinstimmend. Am Schluss der Führung suchten wir gemeinsam die St. Martinskirche auf. Beim Eintritt in das Gotteshaus verstummten die Kinder, das Brausen der Orgel nahm sie in Bann, scheu setzen sie sich in die Bänke. Für sie, die in einer verordneten atheistischen Welt aufwuchsen, waren Kirchen weitgehend unbekannt und besonders der Klang der Orgel, die der Kantor so meisterhaft zu Gehör brachte, war ein besonderes Erlebnis. Einige wussten, dass bei ihnen in der Orthodoxie nur gesungen wird in Form des byzantinischen Kirchenliedes. Auf die Frage des Dechants: "Wer von euch ist denn getauft«'... herrschte Stille. Die Dolmetscherin wiederholte die Frage. Da meldeten sich zwei jüngere Mädchen und erzählten leise, dass ihre Großmütter mit ihnen beteten und getauft würden sie auch noch - wann, das wussten sie nicht.

Nach dieser eindrucksvollen Stunde gingen alle ins Rathaus. Dort wartete im Sitzungssaal der Bürgermeister und munterte die Kinder auf, indem er ihnen erklärte, sie säßen heute auf den Stühlen jener Bürger, die Hillesheim regierten und wichtige Beschlüsse fassen. Die Kinder fanden das toll, griffen beherzt zu Cola. Limonade und Plätzchen, gaben bereitwillig Auskunft auf Fragen der Gastgeber. Nun war ihnen ja alles nicht mehr so neu in dieser Stadt und Angst hatten sie auch nicht mehr. Ein paar Tage später sah ich sie mit den Gasteltern auf dem Markt, fröhlich kamen sie mir entgegen, einige sagten sogar »hallo«. Das Staunen war groß, als sie die Berge Bananen am Obststand sahen.

Am Ende ihres Aufenthaltes wurde in Niederehe ein Abschiedsfest veranstaltet, wir zwei Stadtführerinnen durften dabei sein. Einer der älteren Jungen kam auf uns zu und fragte, ob wir etwa in ihrer Sprache von diesem Dorf oder einem anderen, wo sie gewohnt hätten, erzählen könnten? Es müsste aber so spannend sein wie in Hillesheim. Ilona und ich schauten uns an und sagten njet - vielleicht beim nächsten Besuch, wir werden uns Mühe geben!