Der blinde Spielmann von Allscheid

Es ist hinreichend bekannt, dass in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Dorf Allscheid, damals zwischen Darscheid und Steinigen gelegen, bis auf ein paar Familien in seiner Gesamtheit nach Amerika auszuwandern gezwungen worden war. Auf einem Tonband, das vermutlich für eine Rundfunksendung im Jahre 1952 erstellt wurde, die damals mit "Stimme der Heimat" betitelt war, berichtet der verstorbene Heimatschriftsteller Klaus Mark aus Brockscheid von seinen persönlichen Begegnungen mit einem der wenigen seinerzeit hiergebliebenen Allscheider. Hier der Wortlaut der Tonbandaufnahme: »Das Interesse an dem untergegangenen Dorf Allscheid wurde schon in frühester Jugend in mir geweckt von dem blinden Leiermann Johann Sadler aus Steineberg. Er war im Jahre 1850 in Allscheid geboren und gehörte zu einer jener Familien, die sich nicht zur Auswanderung entschlossen halten. Ich sehe jenen blinden Leiermann heute noch vor mir, wie er in Begleitung seiner Frau, die ihn am Arm führte, von Dorf zu Dorf wanderte und seiner kleinen Drehorgel die Melodien alter Volkslieder entlockte. In meinem Heimatdorfe Brockscheid wurden die beiden alten Leutchen immer gerne gesehen. Die kleinen Gaben, die sie an den Türen erhielten, wurden ihnen gerne gegeben, gleichermaßen um Gotteslohn, denn das Schicksal, das den armen Mann in den ersten Tagen seines Lebens erblinden machte, war hart und schwer.

Manchmal übernachteten der blinde Spielmann und seine gute Frau in meinem Heimatdorf. Wenn ich davon hörte, so zog es mich regelmäßig hin zu dem kleinen Haus am Dorfausgang bei der Kirche. Im dämmerigen Raum der Stube hörte ich dann still zu, wenn der alte Mann, der immer sehr gesprächig war, von Allscheid erzählte, das er selber zwar nie gesehen, dessen Bild er aber so in der Seele trug, wie es ihm seine Mutter von Kindesbeinen an in vielen Erzählungen entworfen hatte. Er stellte mir die bittere Armut der damaligen Zeit vor Augen, er sprach von der unbändigen Heimatliebe der Allscheider Leute und zeichnete so ein lebendiges Bild von der unmenschlichen Tragik, die mit jener Auswanderung vor nunmehr hundert Jahren verbunden war. Kein Wunder, dass die Worte des Leiermannes auf mich jungen Menschen einen tiefen Eindruck machten! Wenn dann nach einem solchen Abend der Blinde und seine Frau am anderen Tage weiterzogen zum nächsten Dorf, so stieg in mir ein tiefes Mitleid auf. In dem zagen, unsicheren Schritt des Blinden lag die erschütternde Hilflosigkeit gegenüber jenem tragischen Schicksal, das dazumal die Allscheider Dorffamilien aus der alten, angestammten Heimat vertrieben hatte. Es war so, als wolle der ruhelose Blinde seine verlorene Heimat suchen, sein totes Dorf Allscheid, das so lange erloschen war wie das Licht seiner toten Augen." Johann Sadler ist 1935 im Alter von fast fünfundachtzig Jahren in Steineberg gestorben.

Anmerkung: Der Tonbandbericht des Brockscheider Heimatschriftstellers Klaus Mark aus dem Jahre 1952 wurde mitgeteilt von Werner Schönhofen Leutesdorf.

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