An Artze -

ein alter Stadtkyller Hausname

Hubert Pitzen, Stadtkyll

In unmittelbarer Nähe der Stadtkyller Kirche stand vor dem Zweiten Weltkrieg ein Haus, das im Volksmund »an Artze« hieß. Durch Bomben wurde es zerstört, doch bis heute hat sich der Hausname für den dortigen Hausbereich erhalten. Wie bei Hausnamen üblich, vererbte sich der Name bei den dort wohnenden Familien weiter, obwohl sie längst andere Namen tragen.

Die Hausnamen »an Artze« oder »Artze Hoff« lassen unschwer erkennen, dass hier in früheren Zeiten ein Arzt ansässig war. Bei dem »Artzen«- Haus handelte es sich um ein 1594 von Graf Johann Gerhard gegründetes freiadliges Lehensgut, das mit Garten, Wiesen und Feldern dem Arzt Balduin von Sambre als Lehen zugeteilt wurde.

Im Jahre 1659 berief Graf Ferdinand Ludwig von Manderscheid-Gerolstein den Leib- und Wundarzt Matheis Fabritius zu seinem Hausarzt und übertrug ihm das durch den Tod seines Vorgängers freigewordene Lehnsgut, das ihm am 26. 11.1665 als »rechtstockständiges« Erblehen übertragen wurde. Dieser Lehnsbrief ist leider nicht mehr erhalten. Als der Wundarzt Matheis Fabritius 1684 starb, ernannte Graf Carl Ferdinand seinen zweiten Sohn Hans Georg zum Nachfolger des Vaters. Der Beruf des Vaters vererbte sich also auch im medizinischen Berufsfeld auf den Sohn. Diese Lehensurkunde ist erhalten geblieben und befindet sich im Privatbesitz der Familie, die den Hausnamen »Artze« weiterführt. Aus dem Erblehnungsbrief erfahren wir folgendes:

Am 1. März 1684 belehnt Graf Carl Ferdinand nach »Absterben und Toot deß ehrsamen Meister Mattheißen Fabritius, leib Wundartz und Bruchschneideren zu Stattkyll auff underthäniges bitten dessen zweytältisten Sohn, Meister Hanß Georgen Fabritius auch leib Wundartz und Bruchschneideren zu Stattkyll« mit dem Erblehensgut seines Vaters. Der Grund, warum nicht der älteste Sohn die Nachfolge des Vaters wie üblich antrat, lag darin, dass dieser neben der Taubheit noch andere körperliche Gebrechen aufwies.

Zu diesem Erblehnsgut gehörten das Stockhaus, Hof, Garten, Wiesen und Felder. Zu festgesetzten Terminen hatte Hans Georg seinen Geschwistern Entschädigungen zu zahlen. Wie bei Belehnungen üblich, wird der neue Leibarzt ermahnt, dieses Lehensgut gewissenhaft zu verwalten. Als Gegenleistung hatte er »Zeit le-

Allegorische Darstellung eines Arztes 17. Jhd. Kupferstich von N. l'Armessin 1645

Wundarzt bei der Amputation

Holzschnitt aus Theophrastus Paracelsus, »Opus Chirurgicum, 1565

bens unß und den unßerigen undt gantzer Hofhaltung mit seiner Kunst undt medicamenten so offt undt viellmahlen Wir seiner vonnöthen haben werden, jedesmahl gehorsamblich auff-zuwarthen und unweigerlich zu erscheinen.« Ferner hat er »unß und unßeren Erben undt Nachkommen Frawen und Herren zu Gerholstein getrew und holdt zu sein und all das zu thun, was ein getrewer Lehenmann seinem Lehenherrn von Recht- und Lehenspflichts wegen schuldig ist, alles ohne gefehrde und argelist«. Bei dieser Erbbelehnung waren der Amtmann Johann Georg Monreal und die Stadtkyller Gerichtsschöffen Johann Werners und Johann Daubach zugegen.

Welche Aufgabe hatte ein gräflicher Leibarzt als Wundarzt und Bruchschneider zu erfüllen? Bei dieser Frage stößt man unweigerlich auf das Medizinwesen der frühen Neuzeit.

Studierte Mediziner gab es in ländlichen Gegenden in dieser Zeit sehr selten. In Aremberg ist erst nach 1720 ein studierter Arzt nachgewiesen, der sich dort wegen der herzoglichen Regierung niederließ. In fast jedem Ort gab es »Heiler« und »Gesundbeter«. Bei dem Stadtkyller Wundarzt Fabritius scheint es sich aber um einen Mann gehandelt zu haben, der etwas mehr von Medizin verstand, worauf auch der lateinisierte Name hindeutet.

In dieser Zeit wurde das Medizinalwesen von der Obrigkeit kontrolliert. Die Grenzen zwischen Schul- und Volksmedizin waren fließend. Die Heilhierarchie ergab folgendes Bild:

Ganz oben standen studierte Ärzte, die aber noch lange nicht von der Mehrzahl der Hilfe suchenden Menschen frequentiert wurden. Sie unterschieden sich einkommensmässig und im Sozialprestige von den anderen approbierten Heilern. Der studierte Medicus beanspruchte den Bereich der inneren Krankheiten. Groß war die Zahl der anderen approbierten Heiler wie Wundärzte, Bader, Apotheker und Hebammen.

Den nichtstudierten Wundärzten oder Handwerkschirurgen war es" jedenfalls offiziell verboten, innere Krankheiten zu behandeln. Ein angehender Meister musste vier Jahre in einer Stadt als Lehrling oder Geselle arbeiten und dann zwei Jahre auf Wanderschaft gehen, um seinen Beruf selbständig auszuüben. Die erworbenen Kenntnisse beinhalteten das Verständnis der menschlichen Anatomie, insbesondere das Wissen »um des natürlichen underschieds der Glieder, wie und wo die gelegen und beschaffen, was in Verbindung der Wunde, Schuss, Stich, Geschwels (Geschwulst), in Verrenckung und Beinbrüchen und anderen Schaden zu unterschiedtlichen zeiten soll applicirt gebraucht werden:« {Medizinal Verordnung von 1628; abgedruckt in Jütle R. "Ärzte, Heiler und Patienten«. S. 21/22) Der handwerklich ausgebildete Wundarzt hatte also das Recht, alle äußeren Schäden und sichtbaren Verletzungen zu heilen. Wundärzte behandelten Patienten aller Bevölkerungsschichten. Die Kranken vertrauten ihren Wundärzten, so dass sie als eigentliche Stütze des frühneuzeitlichen Gesundheitswesens bezeichnet werden können. Nun trug der Stadtkyller Wundarzt Fabritius noch die Bezeichnung "Bruchschneider". Was ist darunter zu verstehen?

Unter den Chirurgen gab es damals schon Spezialisten wie Stein- oder Bruchschneider und Okulisten (Augenärzte). Bruchschneider behandelten Leisten- oder Hodenbrüche. Dieses schwierige Metier erforderte eine sichere Hand und viel Erfahrung. In den Städten überließ man das oft auswärtigen Chirurgen, die in unregelmäßigen Abständen Station machten. Insbesondere das Stein- wie auch das Bruchschneiden (Lithotomie oder Herniotomie) waren kein ungefährliches Unterfangen, obwohl die Erfolgsquote für damalige Verhältnisse erstaunlich hoch war. So achtete der Rat der Stadt Köln auf die Qualifikation dieser Spezialisten, indem er sie durch die medizinische Fakultät prüfen ließ und ihnen bei Operationen an gebrechlichen Leuten die Auflage machte, vor dem Eingriff die Bürgermeister zu informieren. Zur selben Zunft wie die Wundärzte gehörten die zahlenmäßig kleineren Bader, die in beschränktem Unfang ebenfalls chirurgische Dienstleistungen anboten. Von diesen ortsansässigen Heilern mit unterschiedlichem sozialen Status und Bildungshintergrund sind die sogenannten »Quacksalber« oder "Kurpfuscher« abzugrenzen. Diese, als Teil des »fahrenden Volkes", zogen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und Ort zu Ort, wo sie mit lauter Stimme und bühnenreifen Darbietungen ihre Wundermittel an den Mann oder an die Frau brachten. Ebenfalls jenseits des Establishments sind die Kräuterweiber und Wunderheiler anzusiedeln, die durch Segensspruch oder Handauflegen die Patienten gesund beten wollten.

Innerhalb dieser Gruppe kristallisierten sich wiederum Spezialisten heraus wie die Zahnbrecher und Knocheneinrenker. Henker nutzten diese Gebrechen, um ihr Gehalt aufzubessern.

Lange Zeit behielten die Wundärzte ihre angestammte starke Position in der Heilhierarchie, bis sie im 19. Jahrhundert als Anbieter chirurgischer Dienstleistungen schrittweise vom Gesundheitsmarkt abgedrängt wurden. An ihre Stelle traten akademisch geschulte Chirurgen, die aus der von der Obrigkeit geforderten »Professionalisierung« als erste Nutzen zogen. Kehren wir nochmals kurz nach Stadtkyll zurück.

Dr. Alfred Müller weist in seinem vom Geschichtsverein herausgegebenen Werk »Geschichte der Medizin im Prümer Land« auf eine m Heidelberg aufbewahrte Handschrift hin. die in Stadtkyll in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits einen Wundarzt namens Marquart erwähnt.

Die Wundarztfamilie Fabritius steht also möglicherweise in langer Stadtkyller Wundarzttradition, von deren Existenz der Hausname »Artze« heute noch Zeugnis gibt.

Literatur- und Quellennachweis:

Delvos H., Stadtkyller Chronik

Erbbelehnungsbrief über das Erblehnsgut zu Stadtkyll vom 1.3.1684 (Privatbesitz)

Jütte R., Ärzte, Heiler und Patienten, München 1991

Müller A., Geschichte der Medizin im Prümer Land, Prüm o.J.

Mein Dank gilt Herrn Dr. Peter Neu, Bitburg, für wichtige Hinweise.