Erinnerungen an »Schreinerkloas«

Als das Handwerk noch keinen goldenen Boden hatte

Theo Pauly, Gcrolstein t

Drei Handwerksleute gab es in meiner Kindheil im kleinen Dorf mit achtzehn Haushaltungen, einen Schuster, einen Schneider und einen Schreiner. Alle waren damals Junggesellen, nur der Schuster hat im vorgerückten Alter noch geheiratet und einen eigenen Hausstand gegründet. Sie wurden jeweils mit ihrer Berufsbezeichnung angesprochen. Der eine war »Belse Schneider«, der andere »Schoostamattes« und der dritte eben »Schreinerkloas«. Aus der Tatsache heraus, dass sie alle drei zumindest über sehr lange Zeit Junggesellen waren, lassen sich zwei Dinge ableiten; einmal lernte nur der aus der Familie ein Handwerk, der nicht zum Bauern taugte oder von dem abzusehen war, dass er auch nicht irgendwo in einen Bauernbe-trieb einheiraten konnte, der aber trotzdem geschickt genug war, eine handwerkliche Tätigkeit auszuführen. Zum anderen hat zur damaligen Zeit das Handwerk wohl nicht eine Familie ernähren können. Gut, der Schuster fertigte die Schuhe der Dorfbewohner. Das Leder dazu stellte allerdings der Bauer selbst, so dass für den Schuster nicht viel mehr als der Arbeitslohn abfiel. Da nun aber praktisch alle Schuhe über einen Leisten geschlagen waren, das Material, das Leder also, sehr hart und stabil, war man froh, wenn ein solches Paar Schuhe endlich einmal so ausgetreten war, dass man einigermaßen bequem darin gehen konnte. Nie wäre jemand auf den Gedanken gekommen, sich nach zwei oder drei Jahren ein neues Paar anfertigen zu lassen. Einmal hätte das zu sehr ins Geld geschlagen, zum anderen hätte man die Plage gehabt, die neuen Schuhe wieder fußgerecht austreten zu müssen. Dazu kam, dass die Schuhsohlen und -absätze mit Eisennägeln (»Pinnen«) versehen waren, die Absätze häufig auch mit einem Hufeisen, so dass der Verschleiß an Sohlen und Absätzen sich in Grenzen hielt. Zudem gab es in jedem Haus ein "Schuheisen« (Pinnefoß), mit Hilfe dessen man selbst verlorengegangene Schuhnägel oder Pinnen wieder ersetzte. So blieb für den Dorfschuster allenfalls, mal einen Flicken auf ein Loch in den abgetragenen Schuhen aufzunähen, mal einen Absatz zu erneuern oder gar eine Sohle und ab und an einmal wirklich ein neues Paar anzufertigen. Der Lohn für Reparaturen drückte sich in Pfennigen aus, wenn der Schuster Familie gehabt hätte und keine Landwirtschaft dabei, wäre er wohl verhungert. Dem Dorfschneider erging es nicht besser; ab und zu einmal ein Anzug oder ein «Überzieher« (Mantel), meist aber nur Änderungen und Flickwerk. Der Schneider war noch schlechter dran als der Schuster.

Und dann der Schreiner! Seine Hauptaufträge erschöpften sich in der Herstellung von Särgen. Starb einmal einer der wenigen Einwohner des Dorfes oder des Nachbardorfes, dann war ihm der Auftrag gewiss; aber das waren ja nicht viele. Hie und da war in einem Haus eine Bank ausrangiert worden und er durfte eine neue fertigen, mal einen Stuhl reparieren oder gar deren ein paar neue machen, auch schon einmal einen neuen Tisch mit Backmulde, eine Tellerbank, ein Regal, ein Fenster, und wenn es hoch kam, schon einmal einen Küchenschrank, Doch die Aufträge gingen so spärlich ein. dass kein Staat damit zu machen gewesen wäre. Damals wurden noch keine neuen Häuser gebaut und Schreinerkloas konnte sich nicht als Bauschreiner profilieren. Aber er hatte eine Werkstatt. Darin stand die Kreissäge, angetrieben mit einem Elektromotor und eine Hobelmaschine, mit eben demselben Motor angetrieben. Der Erfolg dieser "modernen« Ausstattung war, dass Schreinerkloas an sämtlichen Fingern seiner beiden Hände die ersten Glieder verloren hatte. Er lebte im Haushalt seines Schwagers. Dieser hatte einstmals die Schwester von Schreinerkloas geheiratet, die dann früh kinderlos verstorben war. Um nicht allein bleiben zu müssen, und da er nicht die Absicht hatte, selbst eine Frau heimzuführen, hatte er seinen Schwager gebeten, wieder zu heiraten und mit ihm im Haus zu bleiben. Nun war er das »Pättchen» (Verkleinerung von Pate) für die Kinder seines Schwagers, darüber hinaus aber auch für alle Kinder des Dorfes »Middermanns Pättche«. Er war ein äußerst rechtschaffener Mann, Mitglied des Kirchenvorstandes, Mitglied im Kirchenchor, nie aber des Gemeinderates, obwohl er, nach eigener Aussage, stets gewusst hätte, was dem Wohl der Gemeinde diente.

»Schreinerkloas«, wie ihn die Alten nannten, oder »Pättchen«, wie wir Kinder ihn riefen, war eine herausragende Persönlichkeil im Dorf. In der Kleidung unterschied er sich von keinem der Bauern, allenfalls dadurch, dass sein "blauleinener« Anzug nicht mit Lehm verschmutzt war wie etwa der seines Schwagers, wenn der in einem nassen Herbst vom Pflügen nach Hause kam. Hobelspäne, ja, die zierten schon einmal seine Beinkleider oder hafteten unter seinen Schuhsohlen, wenn der Leimtopf umgekippt und Schreinerkloas hineingetreten war. Immer aber führte er in seiner Jackentasche die Priemdose mit dem Kautabak mit sich, und wenn er die Dose hervorholte, waren stets auch ein paar Hobelspäne dabei. Er verachtete aber auch nicht die Pfeife, und oft rauchte er diese zusätzlich zum Priem im Mund. Häufig waren wir Kinder Gäste in seiner Werkstatt. Hier war es im Winter zwar nicht so warm wie bei »Schoostamattes«, aber der Kanonenofen brannte, mit Holzspänen, Sägemehl und Holzabfall gespeist, und wenn man nahe dabeistand, heizte er ganz schön ein. Und dann fielen immer Holzteile ab, mit denen man als Kind manches anfangen konnte, denn sie waren glatt geschnitten und sauber gehobelt. Da entstand dann zu Hause im Schuppen aus diesen Abfallteilen ein kleiner Karnickelstall, oder der Schlitten wurden ausgebessert oder sonst etwas »Notwendiges" gezimmert. Am begehrtesten aber waren die kleinen, vierkantigen Lättchen, etwa ein Zentimeter im Durchmesser und zirka achtzig bis hundert Zentimeter lang. Sie wurden zu Pfeilen für den Flitzebogen, den damals jeder von uns sich selbst aus einem starken Haselstrauch und dünnem »Wurstseil« hergestellt hatte. Hiermit wurden Schieß-Wettkämpfe veranstaltet, wobei es nicht so sehr auf Treffsicherheit als auf Weite ankam. Waren diese Lättchen einmal ausgegangen, war Schreinerkloas stets bereit, uns neue auf seiner Kreissäge zurechtzuschneiden; dafür ließ er sogar die übrige Arbeit hintanstehen. Seine Arbeitshaltung war die eines Künstlers. Wenn er einen Auftrag für Stühle entgegennahm, dann gab er durch Haltung und Ausdruck zu verstehen, dass er daran zwar nicht unbedingt interessiert sei, weil noch so viele andere Arbeit auf ihn warte, dass er aber dennoch bereit sei, den Auftrag auszuführen; aber mit einer angemessenen Lieferzeit müsse schon gerechnet werden. Das wusste jeder. Schreinerkloas gab sich nur an eine solche Arbeit, wenn ihm danach war. Dann aber wurde es auch ein kleines Kunstwerk, solide und fein gearbeitet, manchmal künstlerisch geschnitten oder geschnitzt, obwohl der Auftraggeber das gar nicht verlangt hatte. Aber weil es ihm Spaß gemacht hatte, wurde das -Künstlerische« mitgeliefert, ohne besonders berechnet zu werden. Das Lob, das ihm ehrlichen Herzens dafür gezollt wurde, war ihm Lohn genug. Schreinerkloas war der einzige Dorfbewohner, der regelmäßig einmal im Jahr für etwa vierzehn Tage Urlaub machte. Dann war seine Werkstatt geschlossen, doch für den Fall, dass in dieser Zeit jemand sterben sollte, hatte er einen Sarg auf Vorrat gefertigt. Schreinerkloas fuhr dann für zwei Wochen nach Lothringen, wo seine Schwester als Nonne in einem Kloster in St. Avold lebte. So war er einer, der in der Welt herumkam, gar ins damals feindliche Ausland, und er wusste von seinen Urlaubsreisen jeweils viel zu erzählen. Mir war allerdings damals schon nicht ganz klar, warum die Franzosen unsere Feinde sein sollten, wo sie doch eine Deutsche in ihrem Land duldeten und es zuließen, dass ein Deutscher jedes Jahr in ihr Land einreiste. Sein Leben lang aber träumte er von einer Weltreise, die er zu machen gedachte, wenn ihm einmal das große Los beschieden sein sollte. Dass er das einmal gewinnen würde, davon war er fest überzeugt, und so spielte er regelmäßig in der Lotterie. Es ist aber nie bekannt geworden, dass er jemals eine größere Summe gewonnen, geschweige denn das große Los gezogen hätte. Ab und zu ließ Schreinerkloas sich auch herab, profane bäuerliche Arbeiten zu verrichten. Wenn es im Heumonat schön war warm, ließ er seine Werkstatt im Stich, bewaffnete sich mit einem Rechen und begab sich ins Heu. Oh, wie musste er da schwitzen! Dass der Schwager in dem Jahr sein Heu trocken unter Dach und Fach bekommen hatte, war allein sein Verdienst. Ebenso hatte es nur an ihm gelegen, dass die Kartoffelernte eingekommen war. Allerdings hat er wohl nie mit einem Karst selbst Kartoffeln gegraben, allenfalls welche aufgehoben, die ausgeworfen waren. Meistens musste der »Gräber" die Kartoffeln selbst sortieren und in die für die einzelnen Sorten bereit steh ende n Körbe vor sich werfen. Die dicken als Speisekartoffeln in den einen Korb, die mittleren als Selzkartoffeln in den zweiten und die kleinen als "Schweinskartoffeln« in den dritten. Wollte man schneller vorankommen und hatte man genügend Leute, vor allem Kinder oder einen wie Schreinerkloas, dann wurden die Stauden ausgegraben und die Kartoffeln nach hinten geworfen, von den Helfern aufgehoben und sortiert. Die ganz niederen bäuerlichen Arbeiten, wie etwa Vieh füttern oder gar den Stall ausmisten, hat Schreinerkloas nie in seinem Leben getan. Dafür hatte er aber immer gute Ratschläge bereit.

Der frühe Abend war für ihn der eigentliche Beginn des Tages. Durchweg alle Abende verbrachte er in einem anderen Haus. An erster Stelle stand das große Erzählen, und an den langen Winterabenden beteiligte er sich gerne am Kartenspiel in der jeweiligen Familie; er war aber auch bereit, im Rosenkranzmonat Oktober den obligaten Rosenkranz mitzubeten. Dann legte er seine Pfeife zur Seite und nur der "Priem« blieb in seinem Mund; der hinderte ja auch nicht beim Sprechen der Gebete. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Schreinerkloas einer der wenigen Männer aus dem Dorf, der nicht eingezogen wurde. Da meinte er, nun müsse er ja wohl für all die verwaisten Familien des Dorfes sorgen. Und er hat tatsächlich in diesen ersten Kriegswochen seine Schreinerarbeit liegen lassen und versucht, so gut er konnte, in den Familien auszuhelfen, aus denen der Ernährer zwangsweise Soldat geworden war. Als dann nach einigen Wochen die meisten Väter wieder nach Hause kamen war er froh, die aus echter Sorge freiwillig übernommenen Pflichten wieder losgeworden zu sein. Immer aber war Schreinerkloas ein gern gesehener Gast in jedem Haus des Dorfes. Dass er nie selbst eine Familie gegründet halte, führte er nach offiziellen Angaben darauf zurück, dass niemand da gewesen sei, der ihm eine zu ihm passende Frau besorgt habe.