Geschichte - Geschichten

Im Blick der Dorferneuerung

Gasthaus Müller in Niederbettingen

Prof. Matthias Weber, Niederbettingen

»Ihr könnt froh sein, dass Ihr noch eine funktionierende Kneipe am Ort habt. Die ist ungeheuer wichtig für Eure Dorf gern ei n schaff!« Der für die Fragen der l an des weit propagierten und staatlich geförderten Dorferneuerung (Motto: »Aufs Land kommt's an«) zuständige Referent der Kreisverwaltung Daun sprach's und hatte damit die Zuhörer voll auf seiner Seite. So geschehen in der ersten Niederbettinger Bürgerversammlung zur Dorferneuerung am 12. März 1996. Schauplatz des Geschehens: Müllers Sälchen.

Weiteres Beispiel: Fast auf den Tag genau zwei Monate vorher, am 13. Januar 1996, derselbe Raum, bis auf den allerletzten Platz besetzt mit fröhlich und beschwingt wirkenden »Bettingern« und einigen bekannten auswärtigen Gästen. Auf den Tischen ganze »Berge« von herzhaft-frischen Landwürsten, duftendem Schweinebraten und Zutaten, nahezu wie die Fleischtöpfe Ägyptens. Dazu - natürlich umsonst - »Eifelchampagner« so lange, wie ihn der Zapfhahn an diesem Samstagabend hergab. Das Gastwirtspaar Christel und Albert Müller hatte in eigener Sache eingeladen, und alle kamen, nicht nur Kunden und Geschäftspartner, wie es auf dem Einladungsplakat hinter dem ersten Saalfenster hieß. »40 Jahre Gasthaus Müller« - am Ort sagt man nicht Kneipe, sondern einfach »bei Müllisch« - galts gebührend zu feiern: mit Essen und Trinken sowie mit Musik (Ein-Mann-Kapelie), Gedichten, Reden, Gesängen und Spaßen. Müllers »Wirtschaft" ist auf dem 290-Seelen-Dorf Niederbettingen, das 1974 nach Hillesheim eingemeindet wurde, so etwas wie ein Urbild und Ersatz zugleich für ein hier fehlendes Bürger- oder Gemeindehaus. Weit unentbehrlicher als die ehemalige Dorfschule, in der man Rechnen, Lesen und Schreiben lernte und von der die heutigen Schulkinder am Ort, die werktäglich mit dem Schulbus nach Hillesheim zur Schule gebracht werden, kaum noch etwas wissen. Wo denn sonst als »bei Müllisch« sollen die Männer am Ort sonntags ihren wohlverdienten Frühschoppen und/oder Stammtisch halten? Wo anders als in Müllers Sälchen, in dem unter dem früheren Chorleiter Albert Müller viele Jahre lang die Proben des ehemaligen Niederbettinger Kirchenchores stattfanden, sollen die heutigen Ortsvereine ihre Sitzungen und Mitgliederversammlungen durchführen? Wohin sonst der Bürgermeister der heutigen Stadt Hillesheim zur Bürgerversammlung im »Stadtteil Niederbettingen« einladen? Wo die Gymnastikgruppe der Frauen ihre Turnübungen veranstalten? Wo die Senioren ihre Altennachmittage abhalten? Und wo schließlich der örtliche Karnevals Club seine jährliche Kappensitzung? Von den vielen privaten Veranstaltungen, wie Kommunionfeiern, Silbernen und Goldenen Hochzeiten sowie Beerdigungskaffees, für deren zeitgemäße Feier die eigenen »vier Wände« längst zu klein geworden sind, einmal ganz abgesehen.

Aber kommen wir noch einmal zurück auf die Jubiläumsfeier. Es versieht sich fast von selbst, dass die Stimmung in Müllers Sälchen am Festabend bis in die Nacht hinein wieder einmal so gut war, dass sie besser nicht hätte sein können. Dazu trugen auch die humorvoll vorgetragenen Erinnerungen des Gastgebers selbst bei. Denn Gastwirt Albert ließ es sich nicht nur nicht nehmen, allen Beteiligten und Gästen für ihre Ovationen und Aufmerksamkeiten mit bewegten Worten ganz herzlich zu danken. Er benutzte diese Gelegenheit auch zum Bericht über eine publikumswirksame Begebenheit während und wegen der Eröffnung seiner Wirtschaft. Obwohl uns heute das mitgeteilte Geschehen anekdotenhaft vorkommen mag, hat es wahrhaft Niederbettinger Ortsgeschichte »gemacht«. Was war passiert? Als man damals (immerhin bereits 1956) die Eröffnung feierte, gab's - auch dies ein Zeichen erheblichen Wandels auf vielen Eifeldörfern - noch einen eigenen Pastor am Ort. Der letzte Niederbettinger Pastor, Pfarrer Scherer, ging 1977 nach Mettlach an die Saar. Zur Bedeutung dieser wichtigen geschichtlichen Tatsache muss man wissen, dass Niederbettingen (früher »Burg Bettingen« genannt) ein uralter Pfarrort ist und auch heute noch vier Filialen hat. Allerdings werden sie seit zwei Jahrzehnten durch den Pastor von Hillesheim, Dechant Kappel, mitverwaltet. So wird auch die große Pfarrkirche am kleinen Ort verständlich, deren 100-jähriges Bestehen man hier im Mai 1998 gebührend feiern wird.

Den geistlichen Herrn nun, der 1956 das hiesige Pfarramt bekleidete, war ein eifriger, gelegentlich vielleicht auch eifernder Prediger von der Kanzel. Eine solche gab es damals noch in der Kirche. Vor starken Worten schreckte er keinesfalls zurück. Auch nicht vor unpopulären Maßnahmen. Dem weltlichen Vorgang, dass Christel und Albert Müller an »seinem« Pfarrort eine Gastwirtschaft aufmachten, widmete er zwar seine besondere Aufmerksamkeit - wohl als Seelenhirte aus Sorge um das Heil der ihm anvertrauten Herde -, jedoch beehrte er dieses Dorfereignis keineswegs durch seine Anwesenheit und Anteilnahme. Offenbar war ein Dorfgasthaus für den damaligen Pastor kein angemessenes Parkett, auf dem er sich wohlfühlte. Natürlich drang die Kunde vom »Treiben« in der neu eröffneten Niederbettinger Kneipe bald im nahegelegenen Pfarrhaus an seine Ohren. Vielleicht sogar auch ein Teil der ungewöhnlichen Freudenstimmung bei »Müllisch«. Die war ihm offenbar - er mochte sich dabei an Vulkanausbrüche erinnert haben - viel zu eruptiv und lustbetont. Er sah, so seine eigenen Worte, dadurch in Niederbettingen »einen

neuen Geist eingezogen«, der für ihn mehr ein Ungeist war. Jedenfalls erschien ihm dieser so gefährlich, daß nach seiner Meinung unbedingt ein unübersehbares Sühne- und Warnzeichen zu setzen war. Zur Strafe, so ordnete er an, dürften daher die Glocken des 'Eifel-Doms' (Volksmundbezeichnung für die prächtige Pfarrkirche) eine Woche lang nicht mehr geläutet werden. Auch das »Ewige Licht« in der Kirche löschte er kurzerhand für die gleiche »Bußzeit«. Erst ein Einspruch aus der Bevölkerung an übergeordneter kirchlicher Stelle veranlasste den Pastor, seine Strafmaßnahmen zu beenden.

Eine ungenannte, jedoch nicht unbekannte Dorfpoetin hat jüngst zum Jubiläum das gleichermaßen »freudige« wie kuriose Ereignis von damals in folgendem humorvollen Gedicht für die Nachwelt festgehalten:

40 Jahre

Gasthaus »Müllisch»

Vor 40 Jahren war's soweit. Albert und Christel öffneten die Türen weit. Ne Kneipe wurde aufgemacht, gesungen, gefeiert die ganze Nacht. Man machte viel Gedöns darum, sogar die Glocken blieben stumm.

Doch wir sind froh, dass wir Euch haben. Wir möchten Euch das hiermit sagen. Wo sollen die Mann denn freitags gehn, sie gern an Müllers Theke stehn.

Auch sonntags morgens kehrt man ein zum fröhlichen Beisammensein. Tut auch der Ischias mal schmerzen, Togal hilft immer - auch dem Herzen.

Habt Dank für all die schönen Stunden, wenn auch mit Arbeit sie verbunden. Wir hoffen, Ihr macht weiter so, darüber wär'n wir alle froh.

Am Samstag kommen wir alle dann und stoßen mit Euch darauf an. Wir reden von vergangenen Jahren, als wir noch etwas munterer waren.

Es gratulieren Euch zu Eurem Feste viele Niederbettinger Kneipengäste.

Bau- und Nutzungsgeschichte

Das Haus wurde 1897/98 erbaut. »Zur gleichen Zeit wie die hiesige Kirche«, erzählt Gastwirt Albert Müller. Der zweigeschossige massive Bau, ein fünfachsiges Traufenhaus, besteht ganz aus örtlichem Buntsandstein. Damals stand er etwas außerhalb und nördlich vom eigentlichen Dorfkern rings um Burg und Kirche. Heute liegt er nach der ersten Ausdehnung des Ortes, zuerst entlang der Hauptstraße Richtung Oberbettingen, - die Kylltalstraße kam ja erst in den 60er Jahren - fast »mitten im Dorf«. Bauherr und erster Eigentümer war ein gewisser Martin Meier, über den hier kaum mehr bekannt ist. Schon er eröffnete im Haus eine Gastwirtschaft, verpachtete sie jedoch bald an »Lin-nert« Druckes. Dieser errichtete 1907 sein eigenes Haus an der Burgmauer. Danach wurde das Haus von Meier hauptsächlich als Mietshaus (mit mehreren Wohnungen) genutzt. Etliche junge Niederbettinger Familien fanden hier ihre erste Unterkunft. Die einfache Reihenfolge der Nutzung lautet also Wirtschaft, Mietshaus, Wirtschaft. Letztere jedoch nicht immer allein. Die bisher letzte, um das Jahr 1960 von Müllers in Auftrag gegebene Niederbettinger Ansichtskarte dokumentiert es auf ihrer Rückseite: »Chr.(istel) Müller - Kolonialwaren und Gastwirtschaft, 5531 Niederbettingen über Gerolstein/Eifel«. Die im Einzelhandel erfahrene, gebürtige Triererin Christel Müller unterhielt im Erdgeschoss, links vom Eingang 20 Jahre lang (1955-1975) einen Lebensmittelladen. Das A & O - Reklameschild an der nördlichen Hausecke wies darauf hin. »Der Laden machte viel Arbeit, aber lohnte sich bald nicht mehr, spätestens dann, als die Supermärkte aufkamen.« Christel, eine ebenso entschiedene wie unermüdliche Wirtin, war nicht nur Namensgeberin und Inhaberin des Gesamtunternehmens, sondern hatte und hat auch dessen Steuer immer sicher im Griff. Albert, als gelernter Autoschlosser jahrzehntelang in einem Unternehmen in Hillesheim tätig, ist gleichsam der Universalhandwerker. "Hier waren noch nicht viele Handwerker im Haus«, sagt er und verweist auf die Fülle der mit ebenso viel Geschick wie Liebe in stetigem Aufbau sichtbar gewordenen und beeindruckenden »Eigenleistungen«. Im Laufe der verflossenen vier Jahrzehnte eigener Geschäfts-, Gasthof- und Gasthausregie hat das unternehmungslustige Ehepaar an und im Haus viel um- und angebaut. Ob im ersten Stock, an Stelle des früheren Saales, Fremdenzimmer für Sommerfrischler (Vollpension damals noch für 10,—DM/Tag), ob das heutige Sälchen, bei dessen Aufbau allerdings auch örtliche Handwerker tatkräftig mitwirkten, aus dem angebauten früheren Stall, ob moderne Toiletten und einen ebensolchen Schankraum. Ab dem 20. September 1978 gab und gibt es »bei Müllisch« richtig frisches Bier vom Fass. Die Ära des Flaschenbieres war Vergangenheit. Im Sälchen war in den 60er Jahren übrigens für gut ein halbes Jahrzehnt eine Näherei untergebracht. Etwa 15 bis 20 Nähmaschinen wurden von rund 10 Näherinnen in Tagschichten ständig genutzt, um beispielsweise Kittel und Röcke zu nähen. Eine schon ältere Frau aus dem Ort machte die Geschäftsbuchführung. Befragt nach besonderen Erlebnissen mit der Gastwirtschaft, erklären beide immer noch einsatzfreudigen Wirtsleute: »Wir haben hier immer viel Spaß gehabt, besonders Fastnacht und Kirmes. Sonntags abends war es früher hier immer voll. Die Leute hatten nie viel Geld. Alle waren immer wie eine Familie.» An eine Denk- und Merkwürdigkeit von 1962 erinnert sich Christel Müller noch besonders gut: Das Sälchen war vier Wochen umfunktioniert zu einem Manöverlager. Rund 80 deutsche Soldaten lagen darin. Christel hatte die ersten Tage alle Hände voll zu tun, den jungen Burschen die Hausordnung beizubringen. »Ausgerechnet in dieser Zeit lag Albert mit einem Beinbruch im Krankenhaus«, berichtet die couragierte Gastwirtin, die im Hause immer »ihren Mann gestanden hat«, voller berechtigtem Stolz.

Wie soll es später einmal weitergehen? Auf diese Frage antworteten beide, Christel und Albert, ebenso klar wie offen: "Am liebsten sähen wir die Gastwirtschaft durch einen Familienangehörigen weitergeführt.« Wer könnte diese große Hoffnung nicht verstehen? Der Gastwirtsfamilie und dem Gasthaus »bei Müllisch« eine gute Zukunft!