Von Völkerhass und Kapellen-Autos

Stefan Gerhard Morbach, Gerolstein

Auf dem Speicher meiner verstorbenen Großmutter habe ich Schulhefte aus dem Jahre 1915 gefunden. Diese geben ein Alltagsbild der Gesellschaft des Ersten Weltkrieges in der Eitel wieder, wobei die Diktate unverblümt die Durchhalteparolen und Propagandasprüche des kriegführenden Staates wiedergeben und die Aufsätze meiner damals dreizehnjährigen Großmutter eher über das ländlich geprägte private Umfeld Aufschluss geben. Die folgenden Auszüge aus den Schulheften sind Zeitdokumente, die für sich sprechen: Kindliches Gemüt, ländlich-katholisches Gottvertrauen, der Erfindungsreichtum einer Not- und Mangelzeit, naive Kriegsverherrlichung, triefender Pathos, unrealistische Endsieghoffnungen und rassistischer Völkerhass verbinden sich hier zu einer fremdartigen, fast skurril wirkenden Mischung.

22. 2. 1915: Diktat: Das kurze »a« ist nicht bezeichnet.

England ist gegen Deutschland. In Russland ist es sehr kalt. Nach dem Sieg werden die Landkarten verändert. Manch tapferer Held hat das eiserne Kreuz erhalten. Wir halten durch bis zum Sieg.

7. 3. 7975: Wie ich mir einen Schützengraben denke.

Im Schützengraben haben sich Soldaten wohnlich eingerichtet. Hier haben sie ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Mitten im Wohnzimmer steht ein Tisch, rundum stehen Stühle und Bänke. In der Ecke steht ein Ofen. Darauf kochen sie. Oft kochen sie nichts, wenn sie nichts haben. An der Decke ist ein Loch, dieses nennen sie Fenster. Wenn die Soldaten freie Zeit haben, spielen sie Karten oder verfertigen Kreuze für ihre gefallenen Kameraden. So leben die Soldaten in ihrer Wohnung, bis eine Granate sie zerstört.

W. 3. 1915: Mein Morgenkaffee während der Kriegszeit.

Wenn ich morgens angekleidet bin, trinke ich Kaffee. Früher bekam ich öfters frische Brötchen zum Kaffee. Jetzt brät Mutter die am vor-

hergehenden Tage übrig gebliebenen Kartoffeln, oder wir essen Kriegsbrot, denn die Brötchen müssen 24 Stunden alt sein, ehe sie verkauft werden. Wenn nun jede Familie morgens Kartoffeln brät, wird im Deutschen Reiche viel Brot gespart.

20. 5. 7975: Die jetzige Kriegslage Wir leben noch immer in der traurigen Zeit des Krieges. Bis jetzt haben wir schon viele Siege erhalten. In letzter Zeit haben wir 14000 Russen gefangen und viele Munition erbeutet. In den Vogesen und im Priesterwald machen wir täglich Fortschritte. Jetzt steht auch Italien am Scheideweg. Aber es kann uns nicht viel wollen, denn ein Teil des Volkes ist gegen den Krieg, das andere Volk will Krieg haben. Darum wollen wir getrost der Zukunft ins Auge sehen und wir hoffen, dass der liebe Gott uns helfen wird.

79. 6. 79J5: Was ich von den Russen denke? Die Russen sind rohe Völker. Als sie in Ostpreußen einfielen, raubten und plünderten sie alles, was ihnen in den Weg kam. Die Dörfer steckten sie in Brand. Da sie unseren Soldaten nicht widerstehen konnten, wollten sie uns aushungern lassen, was ihnen aber nicht gelingen wird. Die Russen sind auch unreine Völker. Arme Leute haben das Vieh in der Stube. Unsere Soldaten schreiben, dort wäre das Ungeziefer in Hülle und Fülle. Wir wollen beten, dass wir die Russen und die anderen Feinde besiegen. 6. 8. 1915: Warschau ist gefallen. Gestern gegen sechs Uhr läuteten feierlich die Glocken. Es war soeben ein Telegramm gekommen, dass Warschau gefallen sei. Warschau war eine große Festung in Russland, wir haben nicht geglaubt dass wir sie so schnell bekommen. Gegen Mittag zog Prinz Leopold von Bayern mit seinem Heere in feierlichem Zuge in Warschau ein. Rundum brannte es. Das ganze russische Heer war auf dem Rückzug. Jetzt sind wir bald mit den Russen fertig, denn geht's nach Frankreich und mit Hurra nach Paris. 77.9. 1915: Holzschuhe. Viele Kinder tragen jetzt Holzschuhe. Dieses ist ein großer Vorteil, denn sie sind billiger als Lederschuhe. Besonders für den Winter sind die Holzschuhe sehr gut, denn sie halten warm. 1 7. 8. 1915: Feindliche Flieger gemeldet. Gestern Abend kam die Nachricht, dass feindliche Flieger gemeldet seien. Alle Lichter auf der Straße waren aus, überall war es dunkel und ruhig, damit die Flieger nicht hörten, dass hier ein Ort sei. Schon mehrmals waren feindliche Flieger gemeldet, aber wir waren noch immer von ihnen verschont geblieben, auch dieses mal, sie hatten eine andere Richtung eingeschlagen. Es war aber sehr gut, denn sie richten oft großen Schaden an. Zuletzt waren vierundzwanzig Flieger über Saarbrücken, sie hatten aber nicht viel Schaden angerichtet. Es waren dreizehn Tote und einige waren verwundet. Die Toten wurden auf dem Ehrenfriedhof begraben. Gott möge unser Vaterland vor feindlichen Fliegern schützen und uns bald den Frieden schenken.

20. 8. 1915: Eine Siegesfeier auf dem Schulhof Als wir heute Morgen auf den Schulhof kamen, fingen unsere Glocken an zu läuten. Die russische Festung Nowo Georgiewsk war gefallen. Wir stimmten alle ein dreimaliges Hoch an. Sogleich läuteten auch die evangelischen Glocken. Es wurde ausgeschellt, das die Festung Nowo Georgiewsk gefallen sei, 20000 Russen gefangengenommen und eine Unmenge Material erbeutet wurde. Wir machten einen Kreis und sangen patriotische Lieder. Die kleinen Knaben marschierten über den Schulhof und sangen Lieder. Gott hat uns bis jetzt zum Siege geholfen, er wird uns auch weiter helfen.

21. 10. 1915: Ein Flieger in Gerolstein.

In den Ferien besuchte ein Flieger Gerolstein. Er kam von Metz und sollte nach Trier fahren. Er hatte die Richtung verloren und war gezwungen zu landen. Zuerst meinten wir, es wäre ein feindlicher Flieger, Nachher sagte man, er hätte auf der Burg gelandet. Da liefen alle Leute auf die Burg, um ihn zu sehen. Es waren zwei Offiziere darin. Ihre Papiere wurden geprüft, ob es auch ein deutscher Flieger sei. Nun wurde ihnen die Richtung wieder gewiesen. Die Männer halfen ihm wieder in die Höhe. S. 11. 1915: Allerseelen 1915. In diesem Jahre war am Allerseelentage regnerisches Wetter, welches gerade für diesen traurigen Tag passte. Der Allerseelentag ist jedes Jahr ein trauriger Tag. In diesem Jahre war er noch viel trauriger als sonst. Viele Soldaten sind in den Kampf gezogen und sterben hier den Heldentod. Hier liegen sie in fremder Erde begraben, und wir können ihre Gräber nicht schmücken und nicht daran beten, weil wir nicht wissen, wo sie begraben liegen. Am Allerseelentage wurde jedem Priester erlaubt, drei heilige Messen zu lesen, welchen wir eifrig beiwohnten. Wir wollen aber hoffen, dass wir das nächste Jahr Allerseelen im Frieden begehen. 12. 11. 1915: Kapellen-Autos In den früheren Kriegen hielt der Feldgeistliche auf freiem Feld den Feldgottesdienst. Jetzt hat man Kapellen-Au tos, mit denen man bis zu den Soldaten fährt. In den Kapellen-Autos ist ein Altar, diesen kann man zuklappen, ein Tabernakel und die Leuchter. Die Soldaten kommen zu dem Auto und wohnen dem Feldgottesdienst bei. Auf dem westlichen Kriegsschauplatz sind sechs auf dem östlichen drei Kapellen-Autos. Auf dem Kapellen-Auto ist eine Fahne, in der Mitte ist ein rotes Kreuz, darin ein weißes Kreuz. Daran erkennen die Soldaten die Kapellen-Autos.

25. 11. 1915: Wie ein deutscher Held stirbt. Auf dem Schlachtfelde liegt ein sterbender Krieger. Flehend streckt er die Hände nach Hilfe aus. Keine rettende Hand ist da, seine Wunden zu verbinden. Seiner Lieben gedenkend, stirbt er einsam in Feindesland. Liebende Kameraden begruben ihn nach einigen Tagen. Sein Grab schmücken blühende Blumen. Zu Hause betet für ihn seine weinende Mutter.