Das schnarchende Dorf

Theodor Weißenborn, Landscheid

In der Nacht hat's geblitzt und gedonnert, dass ich davon aufgewacht bin. Der Hund suchte seinen Kopf unter meiner Bettdecke zu verstecken, und ich habe ihn beruhigt. Wieder krachte es und ein Gewitter ging nieder, wie ich's selten erlebt. Die Eichen knarrten und ächzten, die Fichten am Hang bogen sich zum Kreis, Böen wühlten in den Haselnusssträuchern und rissen Zweige von den Büschen, und die Eule rief, dass den einsamen Wanderer graute. Rauschend strömte es hin über Haus und Garten, Wiesen und Wald, trommelte aufs Terrassendach und fegte, als ich das Fenster öffnete, kalt mit dem Sturmwind herein. Ich hab's genossen. Habe die feuchte Luft eingesogen und die Düfte der Blüten, den Geruch des nassen Grases, des Laubs, und ich hörte dabei die Stimme meiner Tante Rosalie, die mir als Kind bei einem Gewitter zu essen verbot, denn, so sagte sie, Gott habe dem Blitz geboten: »Wer schläft, den lass schlafen! Wer arbeitet, den lass arbeiten! Den Fresser aber schlag tot!" So verschonte mich's, weil ich nicht aß, und ich schaute mit tiefem Behagen hinaus ins Gewoge der Wipfel und des schwarzen Gewölks und sah diesem nach, wie's über mich hinwegzog mit rasender Eile, übers Tal und über die Wälder, dem Hunsrück zu. Dann verging's so jäh, wie es gekommen, tropfte nur noch von den Bäumen, tröpfelte vom Terrassendach, das Gewölk riss auf, der späte volle Mond sah herein und malte die schwarzen Schatten der Sträucher und Bäume aufs helle Gras. Ich war jetzt so wach, dass mir beikam, dies sei die richtige Zeit für einen Weg durch die Nacht, den ich mir schon lange vorgenommen - nur Bequemlichkeit und Gewohnheit hatten bisher verhindert, was doch der Mühe wert war. Also zog ich mich an, nahm den Haselnussstecken und ging mit der Hanna hinaus, die auch sogleich munter war und die Sache kaum erwarten konnte.

Wir gingen durchs nasse hohe Gras, durch das Seitenpförtchen unter den Fichten, traten hinaus auf den mond beglänzten sandigen Weg und gingen an den Gärten, an Philippis Weide entlang, wo der Esel schlief, und weiter in halber Höhe des Hangs hinunter ins Ruwertal. Manchmal liefen wir ins Dunkel, durch Waldparzellen, gingen im Schatten der Fichten dahin, von deren Zweigen noch einzelne Tropfen herabfielen, die schlugen mir kühl auf die Haut des Nackens, dann traten wir wieder ins volle Licht des Mondes, der mitging oder vor uns herlief, immer da war und den Weg erhellte. Der folgte, sich windend, den Schleifen des Flüsschens drunten, das hoch angeschwollen war und in der Tiefe dahinschäumte im steinernen Bett, vorbei am alten, verfallenen Hammer, dessen Dachgerippe gespenstisch herauf ragte vor dem tosenden, glänzenden Wasser. Dort hausten die Ratten, denen der Biermüller Fallen stellte, und einen versteckten Keller gab's dort, so erzählten die Leute, tief unterm darübergeleiteten Fluss, und darin liege ein Silberschatz aus der Zeit der napoleonischen Kriege. Schaurig schön war's, aus der Höhe hinabzusehen ins Chaos der Fels- und Mauertrümmer, darum die Wasser strudelten und glitzerten im fahlen Mondenschein.

Der Hund hielt sich dicht an meiner Seite, mochte keine Umwege laufen - war's beginnende Alters Weisheit? Oder war der Weg ihm nicht geheuer? Seltsame, nie gehörte Laute vernahmen wir im Unterholz, wo's bald knackte und raschelte, fiepte, aufbrach und davonstob, bald krächzte und flatterte, so dass die Hanna verhielt, ein Vorderbein hob und die Ohren spitzte.

Einmal saß ein kleines Gespenst vor uns auf einem Baumstumpf, blickte uns an mit grünglitzernden Augen und verschwand, als wir näher kamen, wieselflink im Gesträuch. So gingen wir dahin im Mondenschein, in der Kühle der rauschenden, flüsternden, wispernden Nacht, im sanften Wehen des Windes und durch die Düfte, die der Regen den blühenden Gräsern, Sträuchern und Blumen entlockt hatte. Und da wir schließlich hinabstiegen zum Dorf, zwischen Gärten und Ställen waren, schlug eine Stundenglocke vom nahen Turm, zwei Uhr war's, und fern bellte ein Hund. Der Kirchplatz lag vor mir im vollen Mondenschein, der Brunnen plätscherte vor dem Kriegerdenkmal, dort stand eine Bank. Ich wischte sie trocken mit den Schößen meines Anoraks, setzte mich und blickte aufs alte Pfarrhaus (oder war es die Schule?), blickte ins Geäst einer mächtigen, uralten Linde, die einen kleinen Anbau (war's eine Garage?) überwölbte, und versank in Betrachtung des Dueschirus, war ein Mann mit Hund, den Mond betrachtend, der, voll und klar, inzwischen tiefer gesunken war, nun längere Schatten zeichnete und die Giebel der Häuser gegenüber beglänzte, so dass ich deutlich die weißen Felder des Fachwerks im schwarzen Gebälk und die geöffneten Fenster sah. Und wie ich aufmerkte, lauschend mit offenem Ohr - denn ein Geräusch war da, das schien mir befremdlich -, da vernahm ich, wie mit den Lüften ringsum von überall her die Laute von Schlafenden herüberwehten, da hörte ich zwar nicht Deutschland schnarchen wie Heine, als er auf dem Sankt Golthard stand und über die Duodezfürsten spottete, aber ich hörte das Dorf schnarchen: mit sägenden, hackenden, pfeifenden Lauten, unterschied sogar einzelne Stimmen im Schnarchorchester, höhere, tiefere, stetige und andere, die bald aussetzen und wieder einsetzten, sich steigernde und dann jäh verstummende und manche, die sich mühten, quälten, um zu überdauern, denen die Sache beschwerlich war; ein mühseliges Geschäft wie das Leben. Nun stehe ich auf -»komm, Hanna, wir gehn!" Und gesättigt vom Anblick des Mondes und satt vor Erinnerung, gehe ich mit dem Hund den langen Weg zurück durch die Nacht, habe den Mond, der bald versinken wird, in meinem Rücken, schon rötet sich der Himmel, und mit dem Tageslicht kehren die Farben wieder, das Leben erwacht mit den Lerchen, der Tau glänzt im Gras, und meine Schuhe - ich fühle es - müssen zum Schuster. Müde trottet der Hund neben mir her, und langsamen, beschwerlichen Schritts gehe ich dahin, dem Dorf, den Gärten zu, an Philippis Weide vorbei, wo der Esel schläft, und da ist das Haus, das uns erwartet, fest gegründet, vertraut, darin der Kater Stoffel schnurrt und die Eule rumort unterm Dach und darin wir geruhsam schlafen werden nach der langen Nacht, allen Weckrufen der Hähne zum Trotz, bis in den hohen Mittag mit Sonnenwärme und Bienengesumm.