Wissen, woher man kommt

Erinnerungen an mein Elternhaus

Gisela Bender, Deudesfeld

Nachdem ich wusste, dass unser altes, bäuerliches Anwesen im Rahmen der Dorfsanierung abgerissen werden sollte, zog es mich mit einer unwiderstehlichen Gewalt nochmals dorthin. Während ich mich gegen die morsche Haustüre stemmte, um sie zu öffnen, suchte mein Blick das Sims des kleinen Fensterchens rechts neben der Tür ab. Dort wurde, wenn wir außer Haus gingen, immer der Hausschlüssel deponiert. Das war den Nachbarn ebenso bekannt, wie wir davon wussten, wo sie ihren Schlüssel aufbewahrten. Man kannte und vertraute sich, und ich habe nie miterlebt, dass es diesbezüglich einmal Probleme gegeben hätte. Nachdem ich die Tür offen hatte, schlug mir Modergeruch entgegen, schließlich war das alles schon jahrelang unbewohnt. Gleich stand man in der offenen Küche. Rechts führte eine schwere Holztreppe zum Obergeschoss, dann nochmal eine weiter auf den Speicher. Um mich besser konzentrieren zu können, setzte ich mich auf die unteren Treppenstufen und ließ meiner Erinnerung freien Lauf. Halb unter der Treppe war der lange Tisch, auf dessen Ende die Zentrifuge stand. Jeden Morgen wurde darin ein Teil der gemolkenen Milch durchgedreht, der überwiegende Teil jedoch wurde an die Molkerei geliefert und sicherte so das einzige Bareinkommen der Familie. Die entrahmte Milch, bei uns Fuppenmilch genannt, wurde für die Aufzucht der Schweine und Kälber verwandt. Aus dem Rahm wurde Butter gemacht und als Nebenprodukt blieb der Familie dann noch die herzhaft schmeckende Buttermilch. Breiten Raum nahm der große Herd ein, auf dem neben der Kochfläche noch ein Kessel eingelassen war, ständig mit Wasser gefüllt. Solange der Herd heiß war, hatte man auch heißes Wasser zur Verfügung. Neben dem Herd war ein breit gemauerter Kamin mit dem Backofen. Alle vierzehn Tage wurde frisches Brot gebacken.

Eine schwere Eisentüre riegelte den Kamin nach oben hin ab. Öffnete man sie, so konnte man die Schinken im Rauch hängen sehen. Ganz links in die Wand eingelassen der Spülstein, ein Sandstein, dort befand sich auch der einzige Wasserhahn im Haus. Die ausgetretenen Bodenfliesen verleiten mich zu dem Gedanken, wie viele meiner Vorfahren wohl zu ihrer Abnutzung beigetragen haben. Langsam stand ich auf und ging in die Wohnstube, lehnte mich an die Wand und rief die bilder aus der Erinnerung in mein Gedächtnis zurück. Das Mobiliar in dieser Stube bestand aus einem Ofen, einem Tisch, einer langen Holzbank und einigen Stühlen. Ich versuchte, die Fenster zu öffnen, was mir jedoch nicht gelang. Früher konnte man von diesen Fenstern aus die Äpfel pflücken, die draußen an der Mauer entlang hochwuchsen. Zwischen den beiden Fenstern stand die Nähmaschine, darüber der einzige Spiegel im Haus. Darunter war ein kleines, viereckiges Kästchen festgemacht, darin lag der Familienkamm und Vaters Rasierzeug. An der Wand links der eingebaute Wandschrank, wo die Kaffeetassen, Brot und Butter sowie Marmelade zu finden waren.

Links neben dem Schrank ging eine Tür ins Spindchen, dem Vorratsraum. Hier stand das Eingemachte in langen Holzregalen und auch die »Mool«, in der der Brotteig vorbereitet wurde.

Neben der Bank in der Stube führte eine Falltüre im Boden in das dunkle Kellergewölbe. Kartoffeln und Äpfel wurden hier eingelagert. Außerdem standen die Kappesbütt und die Solperbütt da unten.

Die Wohnstube, sie ist in allen meinen Erinnerungen. Ich setzte mich auf eine alte Holzkiste, die ich noch aufgetrieben hatte und sah Tausende von Begegnungen vor mir, die in dieser kleinen Stube stattfanden. Anfang bis Mitte der 50er Jahre hatten wir und die Raiffeisenkasse die einzigen Schrotmühlen im Dorf. Es war Brauch, dass fast jeden Abend, einmal mehr, einmal weniger Männer aus dem Dorf kamen, um Schrot zu machen. Anschließend saß man in dieser Stube beisammen. Jeder rauchte in seiner Pfeife ein anderes Kraut. Dann wurde gepafft, dass die niedrige Stube (man konnte mit ausgestreckter Hand die Decke berühren) im blauen Dunst eingenebelt war. Es wurde erzählt und erzählt. In den ersten Jahren überwogen die Kriegserlebnisse, später schoben sich die aktuellen Geschehnisse immer mehr in den Vordergrund,

Wir Kinder verhielten uns mucksmäuschenstill in der hintersten Ecke der Bank. Solange niemand auf uns aufmerksam wurde, durften wir aufbleiben, ansonsten mussten wir ins Bett.

Aber oftmals, so scheint es mir heute, hatten uns die Erwachsenen vergessen. Alle waren von ihren Erzählungen gefesselt und sie redeten sich die schlimmen Erlebnisse von der Seele. Auf diese Weise erlebten wir jahrelang ganze Feldzüge im Osten und im Westen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft mit. Uns Kindern wurde durch diese Erzählungen aber auch ein kleiner Einblick in die dörflichen Verhaltensweisen während der Nazi-Diktatur offenbart. Ich kann mich erinnern, dass ich des öfteren, nachdem man uns irgendwann ins Bett geschickt hatte, von all dem Gehörten nicht mehr schlafen konnte. Schaden haben wir daran jedoch nicht genommen, im Gegenteil, ich bedaure heute oft, dass ich nicht noch besser zugehört habe.

Die einzige, die ungeachtet aller Besucher und aller Reden ungeniert ihrer Arbeit nachging, war unsere Mutter. Nie saß sie untätig in einer solchen Runde dabei. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass diese täglichen Männerrunden an ihren Nerven gezehrt hätten.

Langsam verließ ich die Küche. An der Haustüre drehte ich mich nochmals um, ließ alles noch auf mich einwirken, dann zog ich die Türe zu, atmete tief die frische Luft ein. Keine Wehmut, dass von diesem Gemäuer, diesen Äußerlichkeiten bald nichts mehr da sein wird? Nein, das alles berührte mich nicht mehr. Ich weiß, wo meine Wurzeln sind!